Desiderium
verstanden?«
Sie nickte.
»Dann muss es eine weitere Besonderheit der Auserwählten sein. Diese Welt möchte, dass du etwas über deine Vorgänger erfährst – egal auf welcher Sprache. Meinst du, du könntest mir übersetzen, was sie schreibt?«
Valladolid, 24. Oktober 1483
Mein Großcousin, Andrés Domingo, der letzte Auserwählte, ist seit zwei Jahren tot. Er wollte niemals in dieses Tagebuch schreiben.
Ich bin Belinda, die neue Auserwählte.
Die Weiten der Sehnsuchtswelt sind es, die mich in den vergangenen drei Monaten stets zurückkehren ließen. Die Eingeweihten, zu denen mein Herr Vater zählt, begrüßen dieses Verhalten. Pater Santiago, mein Beichtvater, betont, ich solle Gott all abendlich danken, dass er mir noch nicht meinen Verstand nahm und weiterhin dafür beten, er möge es nicht tun, bevor er meine Seele zu sich nehmen wird.
In den vergangenen Wochen äußerte ich die Vermutung, es sei die Sehnsucht, die die Welt der Sehnsucht ausstrahlt, die mich in ihren Bann zieht, die mich des Nachts schlaflos am Fenster sitzen lässt, we nn ich sie nicht betreten kann.
Bei meinem letzten Besuch wurde mir g ezeigt, dass ich mich irrte: Ich traf sie zufällig in der Stadt. Oder wie mich meine Amme, Doña Mar ina, verbesserte: Gott beschloss, unsere Wege zusammenzuführen.
Es ist eine Frau von auffallender Schönheit, die mir den Atem zu ra uben scheint. Eine hochgewachsene Gestalt mit dunkelbraunen Haaren und Augen so blau wie das Meer, das ich seit einer Ewigkeit nicht mehr erblicken konnte. Bei unserer Begegnung trug sie die Kleidung eines Soldaten, erweckte den Eindruck, als sei es gewöhnlich für eine Frau. Ihre Haltung entsprach der unserer Königin.
Es bedurfte nicht lange zu erkennen, weshalb sie existiert – auch wenn ich die Blasphemie, dass ich es gewesen sein soll, die sie erschaffen hat, vor meinem Gewissen nicht leugnen kann. Sie erscheint wie eine unabhängige Frau, die an niemanden gebunden ist, die selbst entscheiden darf, wer eine vorteilhafte Partie sein könnte. Ihre Zukunft wird weder von ihrem Vater noch von einem anderen Mann bestimmt. Nur von mir .
Ich unterhielt mich mit ihr, führte ein Gespräch ohne mich an dessen Inhalt erinnern zu können. Dennoch weiß ich, dass auch ihre Worte die Gabe besaßen, mich zu faszinieren, jede Sekunde führten sie mir vor Augen, was ich tief in meinem Innern ersehnte. Und obwohl ich mich an die Vorschrift hielt, ihr die Wahrheit nicht zu erzählen, spüre ich die Verbindung. Die Sehnsucht, zurückzukehren ist seither gewachsen; jeden Tag flehte ich, hierher kommen zu dürfen, doch mein Vater e rlaubte es mir erst an diesem Tag.
Ich kenne die Gefahren, die es mit sich bringt, nicht nur Zeit in dieser Welt zu verbringen, sondern Zeit und Gedanken mit der größten Seh nsucht zu teilen. Ich verspüre das Bedürfnis, zu bleiben, nicht mehr zurückzukehren, in eine Welt, in der ich meine Ziele niemals werde verwirklichen können.
»Ist das der einzige Eintrag von ihr?«, fragte Jaron, kaum dass sie den Mund geschlossen hatte.
Sie blätterte weiter. »Nein, jeder von ihnen scheint mi ndestens ein halbes Dutzend Mal geschrieben zu haben.« Bevor er sich dazu äußern konnte, hob sie eine Hand, damit er schwieg. Innerlich grummelte er.
Eine Zeit lang sah er ihr beim Lesen zu . Durch den Schleier ihrer Haare glaubte er zu sehen, wie sich ihre Körpersprache veränderte. Ihre Augen weiteten sich, sie zog die Schultern an und schluckte mehrmals.
Nach gut zehn Seiten richtete sie sich auf. Ihre Blicke trafen sich.
»Was ist los?«
»Sie haben sich angefreundet.« Zu seiner Verwunderung wi rkte sie auf einmal verletzlich. »Belinda musste nie trainieren, deshalb konnte sie sich bei jedem ihrer Besuche mit ihrer Sehnsucht treffen. Eines Tages verriet sie, wer sie war und wie die beiden in Verbindung zueinander standen. Das Wissen und ihre Freundschaft machte sie dort beide stärker, aber außerhalb wurde die Sucht zu groß. Sie scheint nach und nach labiler geworden zu sein. In ihrem letzten Eintrag stehen nur noch nicht zusammenhängende Worte.«
»Findest du etwas darüber, ob sie daran auch gestorben ist?«
Kopfschüttelnd schnappte sie nach dem Buch der Eingeweihten. »Kindsbettfieber«, sagte ich dann tonlos. »Sie wurde von ihrem Vater verheiratet, ist bald schwanger geworden und kurz nach der Geburt gestorben; ihr Sohn einen Tag später. Soweit ich weiß, war das damals kein ungewöhnlicher Tod.«
Jaron schwieg einen Augenblick
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