Desiderium
lang. »Tut mir Leid«, sagte er dann mitfühlend.
»Dir braucht nichts leid zu tun. Ich kannte sie ja nicht einmal.« Sie schauspielerte. Er konnte ihr ansehen, dass die Worte ihrer Vorgängerin sie an etwas erinnerten. Und dass sie offenbar unglücklich in ihrer Welt gestorben war, machte ihr etwas aus.
Er hob eine Hand , um ihr Handgelenk zu umfassen, damit sie ihn ansah, bis ihm einfiel, dass sie nichts Langärmliges trug. »Aber du siehst, was dir passieren kann«, sagte er stattdessen. »Dir wird wieder einmal vor Augen geführt, was deiner Familie in den vergangenen Jahrhunderten passiert ist.«
»Es ist schrecklich.« Das Mitgefühl bli tzte in ihren braunen Augen auf. »Aber es ist vergangen und ich habe nicht vor, dieselben Fehler zu machen. Außerdem kann sie eine meiner Vorfahren gewesen sein, muss sie aber nicht. Hat dir das keiner erzählt? Meine Großmutter meinte, dass sich die Auserwählten auf mehrere Familien verteilten.«
Stures, stolzes Frauenzimmer!
»Ich guck mal nach den Einträgen eines anderen Auserwählten«, schlug sie vor, um das Thema wechseln zu können.
London, 11. Februar 1542
Ich stehe kurz vor meinem Ableben, dessen bin ich mir sicher. N iemand, nicht einmal ich, ist der Überzeugung, dass unser Sire, König Henry VIII., mich am Leben lassen wird.
Immerhin ließ er meine Schwägerin öffentlich köpfen, nur weil er ihrer überdrüssig wurde – er glaubte, sie hätte ihn betrogen. Beinahe hätte er seine vierte Ehefrau aufs Schafott geschickt, lediglich weil sie ihm nicht gefiel. Catherine Howard allerdings, dieses naive Kind, wird ihren Kopf verlieren. Bald wird er vor den Füßen des Volkes liegen. Ebenso wie der Meine.
Ich hörte die Wachen vor meiner Zelle über mich reden. Sie unterhie lten sich mit dem Herzog von Suffolk, dem Schoßhündchen unseres leichtgläubigen, närrischen Tyrannen, dass einige an meinem Verstand zweifeln. Sie verhöhnten mich, die half, mehr als eine Königin loszuwerden, die ihren eigenen Ehemann auf das Schafott brachte. Sie glauben zu wissen, was man mir bereits vor Jahren prophezeite: Ich weiß, dass ich den Verstand verlieren werde. In all den Jahren konnte ich nur das nutzen, was mir blieb. Es schwindet. Mein Geist steht an der Schwelle des Wahnsinns und wird bald hinabstürzen und auf dem Grund zerschellen.
Die Eingeweihten, die allesamt am Katholizismus festhalten, haben das Portal vor mehr als fünfzehn Jahren außer Landes bringen lassen –zunächst sprach man von Irland, doch seit einiger Zeit erzählt mein Informant mir vom Festland. Seitdem konnte ich meiner Bestimmung kein einziges Mal mehr folgen.
Ich dachte, ich würde mich eines Tages daran gewöhnen. Ich bewahrte mein Geheimnis, ebenso wie ich die vielen Geheimnisse anderer bewahrt hatte. Ich unterdrückte die Symptome, die Leere, die durch den Tod meines Mannes nur stärker wurde. Aber es wurde immer schlimmer. Ich bin beinahe froh, hier zu sein, wo ich die Maske, die mich so viel Kraft kostete, ablegen kann. Ich bin am Ende mit mir und meinem Leben. Soll der Wahnsinn mich einholen, bevor ich sterbe. Der Tod kann nicht schlimmer sein als der Wahnsinn des Hofes und wenn eine Auserwählte wie ich nicht die Welt der Sehnsüchte betreten kann.
Ich werde diesen Brief dem Geistlichen geben, der in den nächsten Tagen zu mir gebracht werden soll. Er ist ein Eingeweihter und wird ihn weitergeben. Es wird das Letzte sein, das ich meinen auserwählten Nachfolgerinnen noch geben kann. Wenn diese Welt noch lange wird existieren können.
In Erwartungen auf den Tod
Lady Jane Rochford
(n achträglich eingetragen von Amelie Durands- Jonasson)
»Toll! Irgendein König hatte mehr als eine Ehefrau, das wollte ich schon immer wissen. Die liebe Jane hatte ganz eindeutig nichts zu sagen und hat nichts beeinflusst.«
Sie warf einen kleinen Stein nach ihm . »Wenn du mir zuhören würdest, wüsstest du, dass du unter keinen Umständen noch etwas von ihr spüren würdest; sie lebte im 16. Jahrhundert und starb wenige Tage nachdem dieser Brief geschrieben wurde.«
Jaron zog eine Augenbraue hoch. Die Auserwählte hatte zwar erwähnt, dass sie sterben würde, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass es so passiert sein musste. »Du kennst sie«, stellte er fest. »Hast du schon mal etwas über sie gelesen?«
»Vor Jahren in einem historischen Roman aus unserer Bibliothek. Ihre angesprochene Schwägerin war Anne Boleyn, die zweite Frau König Henrys VIII. Er hat hauptsächlich
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