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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christin C. Mittler
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wegen ihr England von der katholischen Kirche abgespalten. Ich wusste nicht, dass eine Boleyn, wenn auch nur angeheiratet, unter meinen Vorgängern ist«, fügte sie mit einer Spur Verachtung hinzu.
    Jaron schnaubte. »Meinetwegen ist sie in deiner Welt mehr oder weniger bekannt; ihr Leben ist für mich nicht weltbewegend. Sie sagt weder etwas über Sehnsüchte noch wo wir hier Portale finden.«
    » Für mich ist es aber wichtig, zu wissen, was passiert, wenn man keinen Zugriff auf ein Portal hat. Es von ihr oder einer anderen zu lesen, ist etwas anderes als es nur durch Erzählungen der Eingeweihten zu erfahren.«
    Anschließend informierte sie ihn darüber, dass die nachfolgenden Einträge von einem Mann aus Mailand und einer weiteren Frau, dieses Mal aus Rom, stammten. Sie hatten wenig geschrieben und Cassim schien nichts davon für wichtig genug zu halten, es ihm vorzulesen.
    »Aber das hier könnte etwas sein!«
     
    Paris, 15. Juni 179 3
    Draußen in Paris scheint die Welt unterzugehen. Die Menschen sind auf den Straßen, sie schreien und protestieren. Der Wunsch nach Veränderung gerät außer Kontrolle. Durch die  wenigen noch sicheren Quellen, an die sich meine Familie wenden kann, erfahre ich von den vielen Toten und Verletzten, den Gefangennahmen.
    Am vergangenen Morgen brachen mehrer e Anhänger der Jakobiner in unser zu Hause ein. Sie zerstörten unsere Einrichtung. Ich konnte sie nicht sehen, doch ihre Stimmen drangen bis hinauf in meine Kammer. Sie ließen mich zittern; ich fürchte mich vor ihnen, ich sehne mich danach, diese Revolution möge ein Ende finden.
    Doch dieses Begehren wird mir nur in der Welt der Seh nsüchte erfüllt. An diesem Ort, den ich lange Zeit als Fluch und Gefahr meines Lebens ansah, herrscht Frieden wie ich ihn mir in Frankreich nicht mehr vorstellen kann.
    Noch bevor die Jakobiner verschwunden waren, brachte unser Dienstmädchen, mich zum Portal – papa ließ es bereits im vergangenen Jahr in den Geheimraum hinter dem Beichtstuhl der benachbarten Kirche bringen – aus Furcht. Mich überkam das Bedürfnis zu schreien, mich gegen die verwunderlich starken Arme der sonst so zierlichen Frau zu wehren, kann ich mir doch nicht sicher sein, meine Familie lebend wiederzusehen, aber letztendlich war die Anziehung stärker.
    Zwei Stunden sind seitdem vergangen. Wenn die fünfte Stunde schlägt, werde ich zurück nach Paris müssen, aber dies wird sich als schwer erweisen, dessen bin ich mir sicher. Denn von meinem Platz aus sehe ich mich nicht im Stande, das Portal zu sehen, obwohl weder Distanz noch Gegenstände meine Sicht behindern.
    Ich befürchte, die Revolutionäre haben es zerstört.
    Kann der Tod schlimmer sein als das Leben, das ich zu führen habe?
    Ich weiß nicht, ob ich das andere Portal rechtzeitig finden werde. Ich hörte papa darüber reden, jedoch wissen sie nicht wo es sein soll.
    Was wenn das Gegenstück in Versailles steht, an einen Ort, wo es uns icherer ist als bei meiner Familie?
     
    Die Zeit spielt mir einen Streich, nun bleibt mir nicht mehr viel, bis ich diese Welt nicht mehr lebend verlassen kann. Sollte ich nicht zurückkehren können, werde ich das ewige Himmelreich niemals erreichen. In den letzten Stunden suchte ich, ich ging nach draußen in die ungewohnte Stille. Stille und Ruhe. Wie sehr ich es herbeisehnte. Ich bemühte mich, mich auf meine Sehnsucht zu konzentrieren. Die Regeln besagen, dass ich lernen muss, meine Sehnsucht zu benutzen, dies versuchte ich. Behutsam und zitternd ließ ich sie durch mich hindurch laufen, ich nahm sie in mich auf, bis meine Erinnerungen und Gefühle an mein Leben außerhalb dieser Welt schwanden. Es scheint ein schmaler Grad zwischen Kontrolle und Verlust, doch nach einigen Versuchen wurde mir die Erleuchtung geschenkt.
    Ich wurde geführt. Die Anziehung meiner möglichen Rettung, des neuen Portals, erstreckte sich über eine schier unendlich lange Strecke. Meine Füße schmerzten, da ich den Weg nicht mit der Kutsche begehen konnte, denn er führte mich nur selten durch die Städte.
    Nun sehe ich den prunkvollen Garten vor mir, an dessen Eingang sich das Portal befindet. Ein eiserner Torbogen von Blumen umrankt – ein außerordentlich schönes Portal.
    Zu keiner Zeit kann ich mir sicher sein, wohin es mich führen wird, dennoch gedenke ich, es zu riskieren.
    Celine Lagally
     
    *
     
    Später am Tag, als ich all meine Reserven für die Welt der Sehnsüchte genutzt hatte und eigentlich tot ins Bett hätte fallen

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