Desiderium
die Möglichkeit gegeben, meine Sehnsucht kontrollieren zu können – wenn auch nur für eine sehr kurze Zeit.
Alles in der Welt der Sehnsüchte sieht aus wie in Österreich, jede Ge stalt kleidet sich entsprechend, sie alle sprechen die Sprache meiner Väter.
Aus Verzweiflung versuchte ich, ein weiteres Portal zu suchen. Ich bi ldete mir ein, mir damit einen Rest an Freiheit zu bewahren. Darauf bedacht, mein Kleid nicht zu beschmutzen, kniete ich mich wie zum Gebet auf den Boden, meine Handflächen berührten die feuchte Erde. Wie ich es bei meinen Vorfahren bereits gelesen habe, konzentrierte ich mich auf das, was ich brauchte. Ich sammelte die Sehnsucht, meinen Schmerz und versuchte sie darauf zu verwenden, mich zu stärken.
Es kostete mich Kraft, die ich kaum besaß. Zwar spürte ich ein Kri bbeln in meinen Armen, spürte, wie die Macht mich durchflutete und wartete lang genug, um eine ungefähre Richtung vorgegeben zu bekommen. Aber dann setzte das Zittern ein, meine Atmung wurde schwer. Ich spürte den Schweiß auf meinem Körper, wie sich Haut und Stoff zusammenpressten.
Der Versuch hatte mich zu viel gekostet; ich musste zurück, wenn ich nicht mein Leben lassen wollte. Auch wenn der Gedanke, hier zu ste rben, für einen Augenblick verlockend erschien. Doch würde Gott mir dies niemals verzeihen.
Ich ging nicht näher darauf ein, dass eine weitere historische Persönlichkeit vor mir dasselbe gesehen hatte wie ich. Jaron hätte der Name ohnehin nichts gesagt.
»Probieren wir aus, wie stark ich tatsächlich bin«, schlug ich vor, schloss das Buch und erhob mich.
Jaron folgte mir augenblicklich. »So lange du rechtzeitig aufhörst, wenn es zu viel wird, bin ich dabei.«
Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. »O wie süß. Bist du etwa besorgt um mich?«
»Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, Auserwählte, aber ich bin nur um mich besorgt. Wenn du dich überanstrengst, muss ich dich zum Portal bringen; schwierig, da ich dich bekanntermaßen nicht anfassen kann. Wenn ich aber die aktuelle Auserwählte sterben lasse, wird Darragh es mit den Regeln sicherlich nicht mehr so genau nehmen müssen. Er würde einen so grausamen Mord an mir begehen, dass ich nicht einmal mehr ein Echo werde, sondern man meine Einzelteile an Ort und Stelle aufsammeln muss.«
» Und auf deinem Grabstein wird stehen: ‚Hier liegt Jaron, die Memme. Tragischerweise gestorben, weil er es sich nicht die Finger verbrennen wollte.«
Jaron warf mir einen schiefen Blick zu , ging jedoch nicht weiter darauf ein. »Weißt du denn, was du tun musst?«, fragte er. Der ernstere Trainer- Ton, war das erste Mal seit langem wieder zurückgekehrt.
»So ungefähr. Du hast gehört, was meine Vorgänger geschrieben h aben. Deshalb werde ich etwas tun, das ich nur selten tue.«
»Und das wäre?«
»Ich vertraue meinen Instinkten.«
Ich tat genau dasselbe wie Napoleons Ehefrau, ich kniete mich sogar hin – vor Jaron! – aber nach einer halben Stunde intensiver Versuche hatte ich nicht einmal einen Hinweis – nur Kopfschmerzen.
»Lass es gut sein!«, schlug Jaron vor. Er beobachtete jede meiner Bewegungen.
»Ich weiß, dass es funktionieren muss. Es kann nur gut sein, wenn ich auch mental trainiere. Schließlich bin ich die Nachfahrin des Mannes, der Träume und Sehnsüchte deutete und nutzte, und nicht die Tochter von Rambo, der mehr Muskeln als Hirn benötigt.«
»Dein Gesicht ist rot wie eine Tomate. Du atmest viel zu schnell, hörst du das nicht? Mach so weiter und wir reden noch einmal über den Grabstein. Lass es gut sein für heute!«
Kopfschütteln. »Ich stand kurz davor wenigstens ein Bild zu bekommen. Einen kurzen Blick auf ein weiteres Portal.«
Jaron zögerte. »Nein. Mach es morgen, wenn du stärker bist.«
*
Nach weiterem Zureden ging sie auf Jarons Vorschlag ein.
In den nächsten Tagen, so erzählte sie ihm, ging si e vormittags in die Schule, dann kam sie zu ihm.
Sie lasen weitere Einträge von Auserwählten und Cassim versuchte mithilfe ihrer Kräfte die Standorte weiterer Po rtale herauszufinden.
Sie bekam wenige, bruchstückhafte Ausschnitte, die sie Jaron zu beschreiben versuchte. Selten konnte er ihr sagen, wo sich diese Orte befanden.
Es führte sie zur Bergkette, zum Mont d’ennui , wo sie nach drei Tagen Suche ein in den Stein eingelassenes Tor fanden. Zwar erkannte Cassim offenbar an einem Leuchten, dass es ein Portal sein musste, aber auch ihr war es unmöglich näher heranzutreten. Eine
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