Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
zusammen – »ich … ähm, ich habe ihr am Computer geholfen, und ich weiß, dass sie ein Notizbuch hatte.«
Das Tagebuch!
Vals Herz machte einen Satz. Endlich hatte sie das Gefühl, ein Stück vorwärtszukommen.
Simone räusperte sich und machte einen nervösen Eindruck. Womöglich fürchtete sie, dass sie zu viel verraten hatte.
»Wissen Sie, wo es ist?«
Sie zögerte, als würde sie innerlich mit sich ringen, doch schließlich sagte sie: »Wir haben hier persönliche Schrankfächer. Das gibt es noch nicht lange, aber es gab einen Diebstahl, und so wurde beschlossen, dass wir unsere wenigen privaten Besitztümer sowie das Lehrmaterial, das wir verwenden, einschließen können.« Sie führte Val an der Rutsche und der Vertiefung in den Sägespänen vorbei, wo Tausende winziger Füße gelandet waren.
Nur ihre nicht.
»Hier entlang«, sagte Schwester Simone.
Valerie folgte Schwester Simone durch die alten, vertrauten Gänge, die heute anders gestrichen waren. Neue Bilder hingen an den Wänden, aber die abgetretenen Fußbodenfliesen waren noch dieselben, und auch sonst hatte sich in den vergangenen dreißig Jahren nicht viel verändert. Hinter den Türen zur Turnhalle ging es turbulent zu, ehrenamtliche Helfer bereiteten bereits die Auktion vor, die in wenigen Tagen stattfinden würde. Während das Dinner in einem Hotel drei Blocks entfernt eingenommen werden würde, konnte man hier das Waisenhaus besichtigen, bevor es seine Pforten für immer schloss. Aus diesem Grunde verwandelten die Ehrenamtlichen den Turnsaal in eine Ausstellungsfläche für die gespendeten Gegenstände, die bei der Auktion versteigert werden würden.
Valerie hatte als Kind nicht viel Zeit in der Turnhalle verbracht, doch als Schwester Simone sie jetzt hier entlangführte, fing ihr Herz an, schneller zu schlagen. Sie erinnerte sich daran, wie die Kinder sie angestarrt hatten, an dem Tag, an dem … Wie hieß sie gleich, die Frau, die sie hierhergebracht hatte? Theresa … oder … Tonia … Nein, das stimmte nicht, aber sie erinnerte sich gut an die Nonne, die angewiesen worden war, Valerie zu helfen, sich im Waisenhaus einzuleben.
Schwester Ignatia hatte sie ebendiesen Korridor entlanggezerrt. Scharfe Fingernägel hatten sich in Valeries Oberarm gegraben. Der Gang war ihr endlos, düster und beängstigend vorgekommen.
»Nun beeil dich, Kind!«, hatte die alte Nonne gedrängt. Ihre schweren Röcke raschelten, während sie vorwärtseilte. Ignatia, die Valerie an die alte Dame erinnerte, die in
Der Zauberer von Oz
inmitten eines Wirbelsturms Fahrrad fuhr, hatte Valerie so schnell durch die Flure gescheucht, dass sie gezwungen gewesen war zu laufen, um mit der Nonne Schritt zu halten. »Hat dir noch keiner gesagt, dass Trägheit eine Sünde ist?«
Val war an vielen verschlossenen Türen vorbeigezerrt worden, und obwohl sie noch nicht ganz fünf gewesen war, hatte sie sich gefragt, hinter welcher davon wohl Baby Camille sein mochte. Was machten sie mit ihr? Würde sie ihre Schwester je wiedersehen?
Schließlich hatte Schwester Ignatia Valerie in einem Raum bei Schwester Anne abgeliefert.
Schwester Anne unterschied sich von Schwester Ignatia wie Tag und Nacht. Sie empfing die verängstigte Valerie mit offenen Armen. Schwester Anne hatte ein freundliches Gesicht. Sie war liebenswürdig und einfühlsam, las den Kindern Geschichten vor und erlaubte ihnen – einschließlich Valerie –, auf ihrem Schoß zu sitzen. Keines der Kinder war je zurechtgewiesen worden, wenn es mit ihrem Skapulier, der Bundhaube oder ihrem Rosenkranz spielte.
»Gott hat die Kleinen mit Neugier gesegnet«, erklärte Schwester Anne der missbilligend dreinblickenden, sauertöpfischen Schwester Ignatia, als Valerie die blutroten Perlen betastete.
»Mit Neugier geschlagen, wäre treffender«, hatte die ältere Nonne geschnaubt, doch sie hatte die jüngere nicht weiter herausgefordert. Für Valerie hatte es den Anschein, als wäre die alte Nonne nur froh gewesen, die Verantwortung für die »Gören« abgeben zu können.
Das lag jetzt dreißig Jahre zurück.
Schwester Simone stieß eine Tür auf und runzelte die Stirn. »Merkwürdig«, sagte sie. »Das hier ist eigentlich einer der wenigen Räume, die wir abschließen.« Sie ging an einem Besprechungstisch vorbei zu einem Regalbrett an der Wand, unter dem abschließbare Fächer angebracht waren. Vor einem davon blieb sie stehen, dann sagte sie leise: »Das ist ja auch nicht verschlossen. Seltsam.«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher