Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
Sorge, an geflüsterte Worte, die sie beruhigen sollten, wenn sie verängstigt war und sich einsam fühlte.
»Alles wird gut«, hatte ihr eine ältere Frau leise versprochen und ihre Schulter getätschelt.
»Es steht uns nicht zu, Gottes Willen zu hinterfragen«, hatte ein Mann in reichgeschmücktem Gewand mit mahnender Stimme verkündet.
»Gottes Wege sind unergründlich«, ließ sich eine Frau mit bläulichen Locken vernehmen.
Doch alles, was Valerie verstanden hatte, war, dass ihr Leben nie mehr wie vorher sein würde. Und dann waren wie aus dem Nichts Gene und Nadine Renard aufgetaucht – ihre Retter und Erlöser, die nicht nur Val, sondern auch ihre Schwester adoptierten. »Das ist alles so surreal«, gab sie jetzt zu und starrte in ihre Tasse.
»Erinnerst du dich überhaupt an deine biologischen Eltern?«
»Selbstverständlich. Ich war vier, als sie gestorben sind. Fast fünf.«
Tat sie das wirklich?
Natürlich hatte sie Bilder von einem Paar vor Augen, aber keine konkreten. Sie erinnerte sich an einen Garten mit einem leeren Fischteich aus Beton, an einen abgenutzten Picknicktisch mit Stühlen. Sie erinnerte sich an ihre Mutter – gertenschlank mit dunklen Haaren –, die in kurzer Hose faulenzte, an ihre zwischen den herabhängenden Zweigen einer Weide aufglimmende Zigarettenspitze. Ihr Vater schien ständig in der Garage zu werkeln und geräuschvoll zu hämmern, und es hatte einen Keller gegeben, richtig? Eine Treppe, die hinabführte in einen dunklen, muffig riechenden Vorraum mit einer verschlossenen Tür … Oder stammten diese Bilder aus Träumen, hatte es sie in Wirklichkeit niemals gegeben?
Ihre Kehle wurde trocken.
»Ich kann mich nicht erinnern, je Fotos von deinen leiblichen Eltern gesehen zu haben«, sagte Slade jetzt.
»Zu der Zeit gab es noch keine Computer oder Handyfotos und all das Zeug. Sämtliche Bilder sind verlorengegangen …« Zumindest hatte man ihr das gesagt. Sie wollte Slade widersprechen, wollte nicht glauben, dass ihre Adoptiveltern sie belogen hatten. Diese ganz neue Perspektive erschütterte sie bis ins Mark.
»Kennst du die Namen von deinen Eltern? Oder deinen Nachnamen?«
»Ja. Meine leiblichen Eltern hießen Mary und Michael Brown.«
»Ziemlich häufige Namen.«
»Ja, ich weiß. Aber warum hätten Mom und Dad – Nadine und Gene, meine ich – lügen sollen? Was hätte es zu verbergen gegeben?«
»Womöglich hat Cammie genau das herauszufinden versucht.«
»O Gott«, flüsterte Valerie und dachte, dass ihre Schwester schon immer einen Hang zum Dramatischen gehabt hatte, eine überbordende Phantasie.
Slade legte den Kopf zurück, und Val beobachtete, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er einen weiteren kräftigen Schluck aus seiner Flasche trank. »Vielleicht ist das der Grund, warum sie umgebracht wurde.«
»Aber das ergibt doch keinen Sinn! Es ist doch schon so lange her …« Sie versuchte, sich auf die Fakten zu besinnen, auf die Umstände, unter denen ihre Eltern umgekommen waren. Man hatte ihnen erzählt, dass Mary und Michael Brown bei einem Flugzeugabsturz ihr Leben verloren hatten. Bei einem Tagesausflug. Valerie und Camille waren bei einer Freundin ihrer Eltern gewesen, als sich die Tragödie ereignete. Da beide Großelternpaare bereits tot waren, waren Valerie und Camille nach St. Elsinore gebracht worden, bis eine angemessene Unterbringung für die beiden Kinder gefunden werden konnte.
Am Ende waren sie bei den Renards gelandet. Nadine war eine Cousine dritten Grades von Mary Brown, die einzige Verwandte, die sowohl über den Wunsch als auch über die notwendigen Mittel und Möglichkeiten verfügte, ein Vorschul- und ein Kleinkind bei sich aufzunehmen.
»Und Cammie hat dir nicht gesagt, dass sie auf der Suche nach euren leiblichen Eltern war?«
»Nein.« Val schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil sie wusste, dass ich sie für verrückt erklären und behaupten würde, sie jage Gespenster.« Ein Windstoß, nüchtern und durchdringend, wehte durch ihre Seele, durch die Risse im Fundament ihres Lebens, und fegte sämtliche Erinnerungen beiseite, die sie für wahr gehalten hatte. Sie blickte Slade an, und ihr schnürte sich die Kehle zu. »Wenn das stimmt … wenn Mary Brown nicht unsere Mutter war«, wisperte sie und zerknitterte den Handzettel von St. Elsinore in ihren Fingern, »war mein gesamtes Leben eine Lüge.«
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Seit meiner letzten
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