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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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jemand im Garten. Ich muss hinuntergehen und nachsehen.« Napoleone stand auf und stellte sich unter das Fenster. »Monsieur Clary – ich bin es!« Ein Blitz zuckte auf. Ich konnte für den Bruchteil einer Sekunde die magere kleine Gestalt in der engen Uniform sehen. Dann war es wieder stockfinster, Donner krachte, das Pferd wieherte aufgeregt, der Regen plätscherte.
    »Wer da?«, schrie Etienne in den Regen.
    »General Buonaparte«, rief Napoleone zurück.
    »Aber Sie sind doch eingesperrt!«, brüllte Etienne.
    »Ich bin wieder freigelassen«, kam es von Napoleone.
    »Und was machen Sie nach Mitternacht bei diesem Wetter in unserem Garten, General?« Ich sprang auf, raffte den Uniformmantel, der mir bis an die Knöchel ging, in die Höhe und stellte mich neben Napoleone. »Setz dich wieder nieder und pack deine Füße in den Mantel, du wirst dich krank machen«, flüsterte Napoleone mir zu.
    »Mit wem sprechen Sie denn?«, rief Etienne herunter. Der Regen hatte nachgelassen, und ich konnte jetzt genau hören, dass seine Stimme vor Wut zitterte. »Er spricht mit mir!«, rief ich. »Etienne – ich bin es, Eugénie!« Es regnete nicht mehr. Ein vor Schrecken über meine kompromittierende Situation sehr blasser Mond kam schüchtern zwischen den Wolken hervor und zeigte uns Etienne mit der Nachtmütze auf dem Kopf. »General – Sie schulden mir eine Erklärung!«, zischte die Nachtmütze. »Ich habe die Ehre, um die Hand Ihrer jüngsten Schwester anzuhalten, Monsieur Clary«, rief Napoleone hinauf. Er hatte seinenArm um meine Schultern gelegt. »Eugénie, komm sofort ins Haus!«, verlangte Etienne. Hinter ihm tauchte Suzannes Kopf auf. Sie trug sehr viele Lockenwickel in den Haaren und sah deshalb recht unheimlich aus. »Gute Nacht, Carissima – wir sehen uns morgen beim Hochzeitsessen«, sagte Napoleone und küsste mich auf die Wangen. Seine Sporen klirrten den Kiesweg entlang. Ich schlüpfte ins Haus und hatte vergessen, ihm seinen Mantel zurückzugeben. In der offenen Tür seines Schlafzimmers stand Etienne im Nachthemd und hielt eine Kerze in der Hand. Ich glitt an ihm vorüber, barfuß und in Napoleones Mantel gehüllt. »Wenn das Papa erlebt hätte«, knurrte Etienne. In unserem Zimmer saß Julie aufrecht im Bett. »Ich habe alles gehört.«
    »Ich muss mir die Füße waschen, sie sind voll Erde«, sagte ich und nahm den Wasserkrug und schüttete das Wasser ins Waschbecken. Dann legte ich mich wieder ins Bett und breitete den Uniformmantel über meine Decke. »Es ist sein Mantel«, sagte ich zu Julie. »Ich werde so schön träumen, wenn ich mich mit seinem Mantel zudecke.«
    »Frau General Buonaparte …«, murmelte Julie nachdenklich.
    »Wenn ich Glück habe, wird er aus der Armee geworfen«, sagte ich.
    »Um Gottes willen, das wäre doch schrecklich!«
    »Glaubst du, ich will einen Mann haben, der sich sein Leben lang an irgendwelchen Frontabschnitten herumtreibt und nur ab und zu nach Hause kommt und mir dann immerfort von Schlachten erzählt? Nein, mir wäre es lieber, sie entlassen ihn, und ich könnte Etienne dazu bringen, ihn in der Firma zu beschäftigen,«
    »Dazu wirst du Etienne nie bringen!«, sagte Julie entschieden und blies die Kerze aus.
    »Ich glaube auch nicht. Schade, Napoleone ist nämlich ein Genie«, überlegte ich. »Aber ich fürchte, dass ihn der Seidenhandel nicht sehr interessiert. Gute Nacht, Julie.«
    Julie kam beinahe zu spät zum Standesamt. Wir konnten nämlich ihre neuen Handschuhe nicht finden, und Mama behauptet, dass man ohne Handschuhe nicht heiraten kann. In Mamas Jugend heirateten alle Leute in der Kirche, aber seit der Revolution muss man sich auf dem Standesamt trauen lassen, und nur ganz wenige Paare gehen nachher noch in die Kirche und bemühen sich, einen der wenigen Pfarrer, die auf die Republik vereidigt wurden, aufzutreiben. Das fällt natürlich Julie und Joseph gar nicht ein, und Mama redet seit Tagen von nichts anderem als von ihrem eigenen weißen Brautschleier, den sie so gern Julie übers Haar gelegt hätte, und der Orgelmusik, die zu »ihrer Zeit« zu einer richtigen Hochzeit gehörte. Julie hat ein rosa Kleid mit echten Brüsseler Spitzen bekommen und rote Rosen angesteckt, und Etienne hat rosa Handschuhe für sie bei einem Pariser Geschäftsfreund aufgetrieben und schicken lassen. Und diese Handschuhe konnten wir nicht finden. Die Hochzeit war für zehn Uhr morgens angesetzt, und erst fünf Minuten vor zehn fand ich sie unter Julies Bett. Worauf Julie

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