Désirée
aus irgendeinem Gruselmärchen vor. Die Riesin hatte mächtige rote Arme und ein breites Gesicht mit einem richtigen Schnurrbart. Das Unheimlichste jedoch war, dass dieser weibliche Grenadier die Lippen unter dem Schnurrbart stark geschminkt hatte und auf dem wirren grauen Haar ein kokettes weißesSpitzenhäubchen trug. Die Riesin betrachtete mich aufmerksam und, wie mir schien, voll Verachtung. »Soll ich mich auskleiden und ins Bett legen?«, fragte ich. »Das hat Zeit, bei Ihnen wird es endlos lang dauern«, war die Antwort. Im gleichen Augenblick meldete Marie: »Ich habe unten in der Küche kochendes Wasser vorbereitet!« Die Riesin wandte sich sofort zu ihr: »Das eilt nicht, setzen Sie lieber einen Topf Kaffee übers Feuer!«
»Starken Kaffee, nicht wahr? Um Madame aufzumuntern?«, erkundigte sich Marie.
»Nein, um mich aufzumuntern«, sagte die Riesin.
Ein endloser Nachmittag ging in einen endlosen Abend über, der Abend in eine ewig lange Nacht, ein dämmriger Morgen schleppte sich dahin, ein glühend heißer Vormittag wollte nicht vergehen, und dann kamen wieder ein Nachmittag, ein Abend und eine Nacht. Aber nun konnte ich die Tageszeiten nicht mehr voneinander unterscheiden. Ohne Pause jagte das Messer durch meinen Körper, und wie aus weiter Ferne hörte ich jemanden schreien, schreien, schreien. Zwischendurch wurde es schwarz vor meinen Augen. Dann gossen sie mir Kognak in die Kehle, und ich erbrach und konnte nicht mehr atmen und versank ins Nichts und wurde aufgerissen durch neuen Schmerz. Manchmal fühlte ich Julies Nähe, jemand wischte mir immer wieder Stirn und Wangen ab, in Strömen brach der Schweiß aus, mein Hemd klebte an mir, ich hörte Maries ruhige Stimme: »Du musst mithelfen, Eugénie, mithelfen …!« Wie ein Ungetüm neigte sich die Riesin über mich, an der Wand tanzte ihr unförmiger Schatten, viele Kerzen flackerten, es war schon wieder Nacht oder noch immer? »Lasst mich doch, lasst mich allein …«, jammerte ich und schlug um mich. Da wichen sie zurück, und plötzlich saß Jean-Baptiste an meinem Bett und hielt mich fest in seinen Armen, und ich legte mein Gesicht an seineWange. Wieder wühlte das Messer in mir, aber Jean-Baptiste ließ mich nicht los.
»Wieso bist du nicht in Paris – im Luxembourg – sie haben dich doch hingerufen?« Die Pein war verebbt, aber meine Stimme klang fremd und keuchend. »Es ist doch Nacht«, sagte er. »Und sie haben nicht gesagt, dass du wieder in einen Krieg musst?«, flüsterte ich in meiner Not. »Nein, nein. Ich bleibe hier, ich bin jetzt –« Mehr erfasste ich nicht, das Messer jagte durch mich, und wie eine Riesenwelle schlug die Qual über mir zusammen. Es kam ein Augenblick, in dem es mir sehr gut ging. Die Schmerzen hatten aufgehört, und ich war so schwach, dass ich nichts mehr denken konnte. Wie auf Wellen lag ich gebettet, ganz leise schaukelte ich dahin, fühlte nichts, sah nichts, hörte – ja, ich hörte. »Ist der Arzt noch immer nicht da? Wenn er nicht bald kommt, ist es zu spät!« Eine vor Aufregung ganz hohe Stimme, die ich nicht erkenne. Wozu einen Arzt? Es geht mir jetzt so gut, ich schaukele auf den Wellen, die Seine mit den vielen Lichtern … Brennend heißer, bitterer Kaffee wird mir in den Mund geschüttet. Ich blinzele. »Wenn der Arzt nicht sofort kommt –« Das ist die Riesin. Wie komisch, ich hätte ihr diese aufgeregt hohe Stimme nicht zugetraut, warum hat sie denn den Kopf verloren? Jetzt ist doch bald alles vorüber … Aber es war nicht vorüber. Es begann erst richtig. Männerstimmen an der Tür. »Warten Sie im Wohnzimmer, Herr Kriegsminister, beruhigen Sie sich, Herr Kriegsminister, ich versichere Ihnen, Herr Kriegsminister –« Wieso Kriegsminister? Wie kommt ein Kriegsminister in mein Zimmer? »Ich beschwöre Sie, Herr Doktor –« Das ist Jean-Baptistes Stimme, geh nicht fort, Jean-Baptiste …
Der Arzt gab mir Kampfertropfen und verlangte von der Riesin, dass sie meine Schultern hochhielt. Ich war wieder bei Bewusstsein. Marie und Julie standen zu beidenSeiten des Bettes und hielten Leuchter. Der Arzt war ein kleiner magerer Mann in schwarzem Anzug. Sein Gesicht war im Schatten. Jetzt blitzte etwas, funkelte zwischen seinen Händen. »Ein Messer«, schrie ich, »er hat ein Messer!« – »Nein, nur eine Zange«, sagte Marie ruhig, »schrei nicht so, Eugénie!« Aber vielleicht hatte er doch ein Messer, denn jetzt jagten wieder die Schmerzen durch meinen Leib, genauso wie vorher, nur immer
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