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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Bogen hingeworfen. Von der Mitte des Bogens
hing ein groteskes Ding herab: eine Sexpuppe, aus der fast
alle Luft entwichen war, mit blondem Kunststoffhaar, einem
rotumrandeten Loch von einem Mund und einer kahlen, rudimentären Vagina. Sie hatte eine Schlinge aus einem altersdunklen Strick um den Hals. Ein handgeschriebenes Schild,
das aussah, als hätte ein schwerarbeitender Erstkläßler es
geschrieben, hing ebenfalls um ihren Hals und baumelte gegen den abgeschlafften Plastikbusen der Puppe. Ein Totenschädel mit roten Augen und zwei gekreuzten Knochen darunter zierte das Kartonschild. GET NICHT DA RAUS, stand
darauf. IHR KÖNTET RUNTERFALEN. IM ERNSD. Gegenüber von dem Balkon lag ein Alkoven, in dem früher wahrscheinlich einmal eine Snackbar untergebracht gewesen war.
Am anderen Ende des Flurs führten weitere Treppenstufen
in die Dunkelheit hinauf. In den Vorführraum, vermutete
sie.
Audrey ging zur Tür mit der Aufschrift MANAGER, umklammerte den Knauf und preßte die Stirn an das Holz.
Draußen heulte der Wind wie ein sterbendes Tier.
»David?« fragte sie freundlich. Sie verstummte, horchte.
»David, hörst du mich? Ich bin es, David. Audrey Wyler. Ich
will dir helfen.«
Keine Antwort. Sie machte die Tür auf und sah einen leeren
Raum mit einem uralten Plakat von Bonnie und Clyde an der
Wand und einer zerrissenen Matratze auf dem Boden. Mit
demselben Leuchtstift wie draußen hatte jemand geschrieben:
ICH BIN ‘NE NACHTEULE UND SCHLAF DEN GANZEN
TAG.
Als nächstes versuchte sie es im Kabuff des Hausmeisters.
Nicht viel größer als ein Wandschrank und völlig leer. Die Tür
ohne Aufschrift führte in einen Raum, der wahrscheinlich einmal eine Vorratskammer gewesen war. Ihre Nase (die jetzt
empfindlicher war, genau wie ihre Sehkraft) nahm den Geruch von uraltem Popcorn wahr. Sie sah eine Menge toter
Fliegen und ansehnliche Haufen von Mäusekötteln, aber
sonst nichts.
Sie trat unter den Torbogen, schob die hängende Puppe mit
dem Unterarm beiseite und sah hinaus. Von hier hinten
konnte sie die Bühne nicht sehen, nur die obere Hälfte der
Leinwand. Das dünne Mädchen rief immer noch nach David,
aber die anderen schwiegen. Das hatte vielleicht nichts zu
bedeuten, aber ihr gefiel nicht, daß sie nicht wußte, wo sie
steckten.
Audrey entschied, daß das Schild um den Hals der Puppe
wahrscheinlich eine echte Warnung war. Die Sitze waren entfernt worden und man konnte unschwer sehen, wie der Boden des Balkons sich neigte; sie mußte dabei an ein Gedicht
denken, das sie auf dem College gelesen hatte, etwas über ein
gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean. Wenn der Lausejunge nicht auf dem Balkon steckte, dann woanders. Weit
konnte er nicht sein. Und er war nicht auf dem Balkon, so viel
stand fest. Da die Sitze fehlten, konnte er sic h nirgendwo verstecken; und an den Wänden hingen nicht einmal Vorhänge
oder Samtbespannung.
Audrey ließ den Arm sinken, mit dem sie die halb mit Luft
gefüllte Puppe gehalten hatte. Die Puppe schwang hin und
her, wobei die Schlinge um ihren Hals ein leises Schabgeräusch von sich gab. Die leeren Augen starrten Audrey an.
Das Loch von einem Mund, ein Mund, der nur einem einzigen Zweck diente, schien ihr entgegenzugeifern, sie zu
verspotten. Sieh doch nur, was du da tust, schien Frieda Fickpüppchen zu sagen. Du wolltest die bestbezahlte Geologin des
Landes werden, mit fünfunddreißig deine eigene Firma besitzen,
mit fünfzig vielleicht den Nobelpreis bekommen … waren das nicht
deine Träume? Die Expertin für das Devon, summa cum laude, deren Referat über tektonische Platten in der Geology Review veröffentlicht wurden, jagt in verfallenen alten Kinos hinter kleinen Jungs her. Und der hier ist kein gewöhnlicher kleiner Junge. Er
ist was Besonderes, so wie du dich immer für was Besonderes gehalten hast. Und wenn du ihn wirklich findest, Aud, was dann?
Er ist stark.
Sie packte den Henkersstrick, zog fest daran, riß das alte
Seil entzwei und gleichzeitig eine ansehnliche Menge Kunststoffhaar aus. Die Puppe landete mit dem Gesicht nach unten
vor Audreys Füßen, und Audrey kickte sie auf den Balkon
hinaus. Die Puppe schwebte in die Höhe und sank wieder
nach unten. Nicht stärker als Tak, dachte sie. Mir egal, was er ist,
er ist nicht stärker als Tak. Und auch nicht stärker als die can tahs. Es ist jetzt unsere Stadt. Vergiß die Vergangenheit und die Träume
der Vergangenheit; dies ist die Gegenwart, und sie ist herrlich. Es
ist herrlich zu töten, zu nehmen, zu besitzen.

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