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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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inneren Kompaß - vielleicht handelte es sich auch um Reverend
Martins »leise, stille Stimme« - bis hierher führen lassen.
Als er durch den Raum gegangen war, sah er die alten Filmrollen und verbliebenen Plakate kaum, nahm den Geruch
kaum wahr, bei dem es sich möglicherweise um Zelluloidphantasien handelte, die in der Wüstensonne gebraten hatten,
bis sie zerfielen. Er war auf diesem Fleck Linoleum stehengeblieben und hatte einen Moment lang die großen Löcher in
den Ecken des helleren rechteckigen Umrisses betrachtet, wo
Bolzen einst den Projektor fest an Ort und Stelle gebannt hatten. Sie erinnerten ihn
(ich sehe Löcher wie Augen)
an etwas, das kurz, wie auf Schwingen, durch seinen Kopf
flatterte und wieder verschwand. Falsche Erinnerungen,
echte Erinnerungen, Intuition? Etwas von all dem? Nichts von
all dem? Er hatte es nicht gewußt, und eigentlich hatte es ihn
auch nicht gekümmert. Sein oberstes Ziel war gewesen, mit
Gott in Verbindung zu treten, wenn er konnte. Das hatte er nie
nötiger gebraucht als jetzt.
Ja, sagte Reverend Martin gelassen in seinem Kopf. Und da
soll sich deine Arbeit auszahlen. Man bleibt in Verbindung mit
Gott, wenn der Schrank voll ist, damit man sich an ihn wenden
kann, wenn der Schrank leer ist. Wie oft habe ich dir das im
vergangenen Winter und in diesem Frühling gesagt?
Oft. Er hoffte nur, daß Martin, der mehr trank, als er sollte,
und möglicherweise nicht ganz zuverlässig war, ihm die
Wahrheit gesagt und nicht nur das zum Ausdruck gebracht
hatte, was Davids Dad »die Firmenpolitik« nannte. Das hoffte
er wirklich von ganzem Herzen.
Denn in Desperation waren andere Götter am Werk.
Da war er ganz sicher.
Er begann sein Gebet wie immer, nicht laut, sondern in Gedanken, und schickte die Worte in klaren, gleichmäßigen Impulsen auf die Reise: Schau in mich hinein, Gott. Sei in mir. Und
sprich in mir, wenn Du es willst, wenn es Dein Wille ist. Wie immer in solchen Augenblicken, wenn er Gott wirklich
brauchte, war er an der Oberfläche seines Denkens ruhig, aber
darunter, in dem Teil, wo der Glaube konstant gegen Zweifel
ankämpfte, fürchtete er, keine Antwort zu bekommen. Das
Problem war denkbar einfach. Selbst jetzt, trotz seiner Lektüre,
seiner Gebete und seines Unterrichts, selbst nach dem Zwischenfall mit seinem Freund, zweifelte er an der Existenz
Gottes. Hatte Gott ihn, David Carver, als Werkzeug benutzt,
um das Leben von Brian ROSS zu retten? Weshalb sollte Gott so
etwas Verrücktes tun? Handelte es sich nicht mit größerer
Wahrscheinlichkeit um das, was Dr. Waslewski als medizinisches Wunder bezeichnete, und war das, was David selbst
für ein erhörtes Gebet gehalten hatte, in Wirklichkeit nichts anderes als ein Zusammentreffen glücklicher Umstände? Man
konnte Schatten erzeugen, die wie Tiere aussahen, aber sie
blieben doch Schatten, kleine Tricks mit Licht und Projektion.
War es nicht wahrscheinlicher, daß es sich mit Gott genauso
verhielt? Daß er nur ein weiterer sagenhafter Schatten war?
David kniff die Augen fester zu, konzentrierte sich auf sein
Mantra und versuchte, seine Gedanken zu klären.
    Schau in mich. Sei in mir. Sprich zu mir, wenn es Dein Wille ist. Und eine Art Dunkelheit senkte sich herab. Er hatte vorher
noch nie etwas Ähnliches gesehen oder erlebt. Er sank seitlich
gegen die Wand zwischen den beiden Schlitzen für die Projektoren, verdrehte die Augen, so daß nur noch das Weiße zu
sehen war, und ließ die Hände in den Schoß fallen. Ein tiefer,
gutturaler Laut entrang sich seinem Hals. Dem folgte ein
schläfriges Murmeln, das wahrscheinlich nur Davids Mutter
hätte verstehen können.
»Scheiße«, flüsterte er. »Die Mumie ist hinter uns her.«
Dann verstummte er, lehnte an der Wand, und silbriger
Speichel troff ihm so dünn wie ein Spinnwebfaden aus einem
Winkel seines immer noch kindlichen Munds. Vor der Tür, die
er zugemacht hatte, um mit seinem Gott allein zu sein (sie
hatte einmal einen Riegel gehabt, aber der war längst verschwunden), konnte man Schritte hören, die näher kamen.
Nach einer langen, abwartenden Pause wurde der Knauf
gedreht. Die Tür ging auf. Audrey Wyler stand davor. Ihre
Augen weiteten sich, als sie auf den bewußtlosen Jungen
fielen.
Sie betrat den engen Raum, machte die Tür hinter sich zu
und suchte nach etwas, irgendwas, das sie kippen und unter
den Türknauf schieben konnte. Ein Brett, einen Stuhl. Es
würde sie nicht lange aufhalten, wenn sie hierher kamen, aber
in diesem Stadium konnte eine winzige

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