Desperation
und Faszination - wurde unterbrochen.
Der Cop bückte sich, um die Flinte aufzuheben. David hielt
den Atem an und rechnete fest damit, daß der Mann jetzt die
Patrone sehen würde, die rechts von ihm auf dem Boden lag,
aber der Cop warf nicht einmal einen Blick in die Richtung. Er
richtete sich auf und drückte dabei einen Hebel an der Flinte.
Sie klappte auf, und die beiden Läufe lagen über dem Arm des
Cops wie ein gehorsames Tier. »Geh nicht weg, David«, sagte
er mit einer vertraulichen, kumpelhaften Stimme. »Wir haben
eine Menge miteinander zu besprechen. Es ist eine Unterhaltung, auf die ich mich freue, glaub mir, aber im Moment hab
ich ein bißchen viel um die Ohren.«
Er ging mit gesenktem Kopf zur Mitte des Zimmers zurück
und hob dabei Patronen auf. Die ersten beiden lud er in das Gewehr; den Rest steckte er zerstreut in seine Taschen. David
wagte nicht mehr, länger zu warten. Er bückte sich, steckte eine
Hand zwischen den beiden äußerst linken Gitterstäben der
Zelle durch und ergriff die dicke grüne Hülse. Er steckte sie in
die Tasche seiner Jeans. Die Frau namens Mary sah es nicht; sie
lag immer noch mit in den Armen vergrabenem Gesicht auf der
Pritsche und schluchzte. Seine Eltern sahen es nicht; sie standen am Gitter ihrer Zelle, hatten einander die Arme um die
Taillen gelegt und beobachteten den Mann in der Khakiuniform voll entsetzter Faszination. David drehte sich um und sah
den alten Mr. Weißhaar - Tom -, der immer noch die Hände vor
das Gesicht geschlagen hatte, daher war das wahrscheinlich
auch okay. Aber die wäßrigen Augen des alten Tom hinter den
Fingern waren offen, David konnte sie sehen, also war es eventuell nicht okay. So oder so war es jetzt zu spät, rückgängig zu
machen, was er getan hatte. David sah den Mann an, den der
Cop Tom genannt hatte, und legte kurz den Finger auf die Lippen. Der alte Tom ließ sich nicht anmerken, ob er es gesehen
hatte; seine Augen sahen in ihrem eigenen Gefängnis nur weiter zwischen den Gitterstäben seiner Finger heraus.
Der Cop, der Törtchen getötet hatte, hob die letzte Patrone
vom Boden auf, sah kurz unter den Schreibtisch, richtete sich
auf und klappte die Schrotflinte mit einer kurzen Bewegung
des Handgelenks zu. David hatte ihn beim Aufheben genau
beobachtet und zu erkennen versucht, ob der Cop die Patronen zählte. Bis zu diesem Augenblick war es David nicht so
vorgekommen. Aber jetzt stand der Cop mit dem Rücken zu
ihm und mit gesenktem Kopf da. Dann drehte er sich um und
kam zu Davids Zelle zurück, und David spürte, wie sich sein
Magen in Blei verwandelte.
Einen Augenblick stand der Cop nur da, sah ihn an, schien
in seinen Kopf reinsehen zu wollen, und David dachte: Er versucht, mein Gehirn aufzubrechen wie ein Einbrecher ein Schloß, »Denkst du an Gott?« fragte der Cop. »Laß es. Hier draußen
hört Gottes Land bei Indian Springs auf, und selbst Herr Satan
setzt seinen Pferdefuß selten nördlich von Tonopah auf. Es
gibt keinen Gott in Desperation, kleiner Mann. Hier draußen
gibt es nur can de lach.«
Das schien alles zu sein. Der Cop verließ mit der Flinte unter dem Arm das Zimmer. Es herrschten vielleicht fünf Sekunden Stille im Zellentrakt, die nur vom erstickten Schluchzen
der Frau namens Mary unterbrochen wurde. David sah seine
Eltern an, die ihn ansahen. Wie sie so dastanden, die Arme
umeinander geschlungen, konnte er sich vorstellen, wie sie
als kleine Kinder ausgesehen haben mußten, lange bevor sie
sich an der Ohio Wesleyan kennengelernt hatten, und das
ängstigte ihn über jedes vernünftige Maß hinaus. Lieber hätte
er sie nackt beim Picken gesehen. Er wollte das Schweigen beenden, wußte aber nicht wie.
Dann sprang der Cop plötzlich wieder in den Raum. Er
mußte den Kopf ducken, damit er nicht an den Türrahmen
stieß. Er grinste auf eine irre Weise, bei der David an Garfield
denken mußte, die Katze aus dem Comic strip, wenn Garfield
seine improvisierte Vaudeville-Nummer am Zaun abzog. Anscheinend handelte es sich hierbei genau darum. An der
Wand hing ein altes Telefon aus schmutzigem und rissigem
beigem Plastik. Der Cop riß den Hörer vom Haken, hielt ihn
ans Ohr und schrie: »Zimmerservice! Schicken Sie mir ein
Zimmer rauf!« Er knallte den Hörer wieder auf und ließ die
Gefangenen sein irres Garfield-Grinsen sehen. »Alte Jerry-Lewis-Nummer«, sagte er. »Die amerikanischen Kritiker verstehen Jerry Lewis nicht, aber in Frankreich ist er der Größte. Ich
meine, er ist ein Star.«
Er sah David
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