Desperation
geblieben. Um halb neun hatte das Telefon
geläutet, zehn Minuten später war seine Mutter blaß und am
ganzen Körper zitternd ins Wohnzimmer gekommen. »David, Brian ist etwas zugestoßen«, sagte sie. »Bitte reg dich
nicht so sehr auf.« An die anschließende Unterhaltung konnte
er sich kaum noch erinnern, nur noch an die Worte keine Überlebenschancen.
Es war seine Idee gewesen, Brian am nächsten Tag im Krankenhaus zu besuchen, nachdem er am Abend dort angerufen
und sich vergewissert hatte, daß sein Freund noch lebte.
»Honey, ich verstehe deine Gefühle, aber das ist wirklich
keine gute Idee«, hatte Ralph gesagt. Daß er Honey sagte, ein
zärtlicher Ausdruck, der, wie Davids Plüschtiere, schon vor
langer Zeit eingemottet worden war, bewies deutlich, wie aufgewühlt er war. Er hatte Ellen angesehen, aber die stand nur
an der Spüle, und wand nervös ein Geschirrtuch in den Händen. Von ihr war eindeutig keine Hilfe zu erwarten. Nicht,
daß Ralph sich selbst besonders hilfreich gesehen hätte, weiß
Gott, aber wer hätte je damit gerechnet, daß es zu so einer Unterhaltung kommen würde? Mein Gott, der Junge war erst elf,
Ralph war noch nicht einmal dazu gekommen, ihn über die
Tatsachen des Lebens aufzuklären, geschweige denn über die
des Todes. Gott sei Dank saß Kirsty im Nebenzimmer und sah
sich Zeichentrickfilme im Fernsehen an.
»Doch«, hatte David gesagt. »Es ist eine gute Idee. Es ist sogar die einzige Idee.« Er überlegte sich, ob er etwas heroisch
Bescheidenes hinzufügen sollte, zum Beispiel: Brian würde es
auch für mich tun, entschied sich aber dagegen. Er glaubte
nicht, daß Brian es tatsächlich für ihn getan hätte. Aber das änderte nichts. Denn er hatte schon damals, vor den Ereignissen
in Bear Street Woods, undeutlich begriffen, daß er es nicht für
Brian tun würde, sondern für sich selbst.
Seine Mutter war mit einigen zögernden Schritten von ihrer
Bastion bei der Spüle hergekommen. »David, du hast das
liebste Herz der Welt … das gütigste Herz der Welt … aber
Brian … er wurde … nun … durch die Luft geschleudert…«
»Sie will damit sagen, er ist mit dem Kopf gegen eine Ziegelmauer geprallt«, sagte sein Vater. Er hatte über der. Tisch
gegriffen und seinen Sohn bei der Hand genommen. »Er hat
schwere Gehirnschäden. Er liegt im Koma, und seine Werte
sind alles andere als gut. Weißt du, was das bedeutet?«
»Daß sie glauben, sein Gehirn ist zu Blumenkohl geworden.«
Ralph hatte das Gesicht verzogen, dann genickt. »Er ist in
einer Situation, in der es am besten für ihn wäre, wenn es
schnell zu Ende ginge. Wenn du ihn besuchen gehen würdest,
würdest du nicht mehr den Freund sehen, den du kennst, bei
dem du übernachtet hast…«
An der Stelle war seine Mutter ins Wohnzimmer gegangen,
hatte das bestürzte Törtchen auf den Schoß genommen und
wieder angefangen zu weinen.
Davids Vater sah ihr nach, als wäre er gern zu ihr gegangen,
dann drehte er sich wieder zu David um. »Es ist besser, wenn
du Bri im Gedächtnis behältst, wie du ihn zuletzt gesehen
hast. Hast du mich verstanden?«
»Ja, aber das kann ich nicht. Ich muß zu ihm gehen. Wenn
du mich nicht fahren willst, das verstehe ic h. Ich werde nach
der Schule den Bus nehmen.«
Ralph hatte einen Stoßseufzer von sich gegeben. »Wenn du
meinst, daß du es wirklich tun mußt, fahre ich dich hin. Und
du mußt auch nicht bis nach der Schule warten. Sag nur um
Gottes willen nichts von alledem zu …« Er nickte mit dem
Kinn Richtung Wohnzimmer.
»Zu Törtchen? Himmel, nein.« Er fügte nicht hinzu, daß
Törtchen schon bei ihm im Zimmer gewesen war und gefragt
hatte, was mit Brian passiert sei, ob es weh getan hatte, was
David meinte, wie es sein würde, zu sterben, und etwa hundert weitere Fragen. Ihr Gesicht war so ernst gewesen, so
aufmerksam. Sie hatte … nun, sie hatte durch und durch wie
ein süßes Törtchen ausgesehen. Aber es war besser, wenn man
Eltern nicht alles erzählte. Sie waren alt, und manche Sachen
gingen ihnen auf die Nerven.
»Brians Eltern werden dich nicht reinlassen«, hatte seine
Mutter gesagt, als sie ins Zimmer zurückkam. »Ich kenne
Mark und Debbie seit Jahren. Sie sind am Boden zerstört vor
Kummer - logisch, ich an ihrer Stelle würde den Verstand verlieren -, aber sie werden nicht auf die Idee kommen, einen
kleinen Jungen einen … einen anderen kleinen Jungen ansehen zu lassen, der im Sterben liegt.«
»Ich hab sie angerufen, nachdem ich im Krankenhaus angerufen hatte, und
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