Dessen, S
altes Mantra.
Sch, sch
. »Es war nicht dein Fehler«, sagte ich schläfrig zu Eli. »Du hast keine Schuld.«
»Du auch nicht«, antwortete er.
Sch, sch, alles gut
.
Es war so spät. Zu spät für Kinder, zu spät für alle. Ich wusste, ich sollte mich aufrappeln und irgendwie nach Hause durchschlagen. Gleichzeitig spürte ich, wie etwas geschah. Ein Gefühl von Schwere, von tiefer Entspannung überkam mich. Es war so lange her, seit ich dieses Gefühl zugelassen hatte, dass ein Teil von mir zurückzuckte, wachsam bleiben wollte, Angst hatte. Doch bevor ich dem Impuls nachgeben konnte, drehte ich mich auf die Seite, kuschelte mich enger an Eli. Ich spürte, wie seine Hand meinen Kopf umschloss. Und im nächsten Moment war ich weg von der Welt.
***
Als ich aufwachte, war es halb acht. Eli schlief noch. Sein Arm lag um meine Taille geschlungen, seine Brust hob und senkte sich langsam unter meiner Wange, auf, ab, auf, ab. Ich schloss die Augen wieder, versuchte, noch mal wegzudämmern, aber das Sonnenlicht drang hell durchs Fenster. Der Tag hatte begonnen.
Vorsichtig löste ich mich von ihm, stand auf, betrachtete noch einen Moment lang sein entspanntes, träumendes Gesicht. Ich wusste, ich hätte mich verabschieden sollen, andererseits wollte ich ihn nicht wecken. Ich hätte natürlich einen Zettel dalassen können, hatte allerdings keine Ahnung, was ich schreiben sollte. Denn nichts wäre auch nur halbwegs an das rangekommen, was ich ausdrücken wollte: wie dankbar ich für alles war, was er in dieser Nacht für mich getan hatte. Deshalb machte ich das Einzige, was ihm meine Dankbarkeit vielleicht wenigstensein bisschen verdeutlichen konnte: Ich füllte Kaffeepulver in einen frischen Filter, goss Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Als ich mich zur Tür schlich, fing der Kaffee gerade an durchzulaufen.
Der Morgen war, wie nur Morgen am Meer sein können: klar, hell, sonnig … einfach wunderschön. Was durch die Tatsache verstärkt wurde, dass ich tatsächlich mal im Dunkeln eingeschlafen war. Während ich nach Hause lief, nahm ich die Meerluft, die Kletterrosen an einem Gartenzaun, meine gesamte Umwelt viel bewusster wahr als sonst. Als ich in die Zufahrt zu unserem Haus einbog, war ich so in meiner eigenen Welt, dass ich fast in meinen Vater hineingerannt wäre. Trotz der frühen Stunde stand er frisch geduscht und angezogen im Eingangsflur.
»Hallo, du bist aber früh wach«, sagte ich munter. »Hast du vor, mit einem neuen Roman anzufangen? Hat dich die Muse geküsst?«
Er warf einen Blick Richtung Treppe. »Äh«, sagte er, »eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, ich wollte gerade … ich muss los.«
»Ach so.« Ich stutzte. »Wohin denn? Zur Arbeit?«
Stille. Die Pause dauerte einen Tick zu lang. »Nein, ich ziehe für ein paar Tage ins Hotel.« Er schluckte, starrte auf seine Hände. Wirkte sehr erschöpft. »Heidi und ich … wir müssen uns beide über ein paar Dinge klar werden und dachten deshalb, das wäre die beste Lösung. Zumindest vorläufig.«
»Du gehst? So richtig weg?« Es fühlte sich total falsch an.
»Nur vorübergehend.« Er atmete tief durch. »Vertrau mir, es ist besser so. Für das Baby, für alle. Ich bin ganz in der Nähe, im
Condor
. Wir können uns jeden Tag sehen.«
»Du gehst?«, wiederholte ich. Das merkwürdige Gefühl blieb.
Er bückte sich nach der Reisetasche, die ich bis zu dem Moment gar nicht wahrgenommen hatte. »Es ist kompliziert«, antwortete er. »Gib uns ein bisschen Zeit. Okay?«
Mir verschlug es die Sprache. Ich sah ihn entgeistert an, während er an mir vorbei zur Tür ging. Dabei hätte ich endlich die Chance gehabt, ihm alles zu sagen, was ich vor einigen Jahren versäumt hatte. Die ultimative Was-wäre-wenn-Gelegenheit zu ergreifen. Ich hätte ihn bitten können, es sich noch einmal zu überlegen, über Alternativen nachzudenken. Zu bleiben. Aber kein Laut kam über meine Lippen. Nichts geschah. Außer dass ich ihm zum wiederholten Mal zusah, wie er ging. Wie er uns verließ.
Lange Zeit rührte ich mich nicht vom Fleck, konnte es nicht glauben. Erst als er seinen Wagen rückwärts aus der Garage gesetzt hatte und fortgefahren war, trat ich zur Haustür und schloss ab.
Ich ging nach oben. Heidis Zimmertür war geschlossen, doch als ich an Isbys Zimmer vorbeikam, hörte ich etwas. Im ersten Moment hielt ich es für Weinen, was nicht weiter verwunderlich gewesen wäre. Doch es war kein Weinen. Behutsam spähte ich ins Zimmer.
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