Dessen, S
große Schachtel unterm Arm trug, stand in der Tür zu Heidis Büro. »Hübsch?« Ich legte die Salbe beiseite, mit der ich gerade die neueste Schramme an meinem Knie versorgt hatte. »Ich schätze, so kann man es auch sehen.«
»Nur so darf man es überhaupt sehen.« Er zog sein Hemd hoch und zeigte mir eine Narbe auf seinem Bauch. »Die hier? Siebte Klasse, Vollcrash auf der Rampe. Und die« – er schob den rechten Ärmel zurück – »stammt von einer Bergtour. Ich war mit dem Mountainbike unterwegs, Frontalzusammenstoß mit einem Baumstamm.«
»Autsch.«
»Aber die Krönung ist das hier«, fuhr er fort und klopfte sich auf die Brust. »Feinstes Titan, Baby.«
Ich sah ihn verwirrt an. »Titan?«
»Die Platte, mit der sie mein Brustbein zusammengeflickt haben«, erwiderte er munter. »Vor zwei Jahren. Hab’s mir gebrochen, als ich mit Integralhelm und allem über ein Hindernis bin.«
»Gegen dich komme ich mir vor wie die letzte Memme.« Ich musterte meine Schürfwunde.
»Quatsch.« Er lächelte. »Zählt alles. Wenn man sich nicht verletzt, fährt man nicht anständig.«
»In dem Fall fahre ich ziemlich anständig«, antwortete ich.
»Das habe ich auch schon gehört.« Er klemmte sich seine Schachtel wieder unter den Arm. »Maggie meint, du wärst das reinste Tier.«
»Sie meint was?«, fragte ich entgeistert.
»Das sind meine Worte.« Er wedelte mit der Hand. »Ihre waren, dass du dich anstrengst und es echt klasse machst.«
Achselzuckend schraubte ich den Verschluss auf die Salbentube. »Ich weiß nicht. Wenn ich so klasse wäre, sähe ich nicht dauerverprügelt aus.«
»Stimmt nicht.«
Ich sah ihn skeptisch an. »Stimmt nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Nimm mich zum Beispiel. Ich bin ein guter Fahrer, trotzdem habe ich mich öfter hingelegt, als ich noch zählen könnte. Und die Profis? Mann, bei denen sind oft mehr Ersatzteile im Körper als echte Knochen. Schau dir Eli an. Er hat sich sowohl Ellbogen als auch Schlüsselbein mehrfach gebrochen, und dann das Ding an seinem Arm …«
Ich fiel ihm ins Wort: »Moment, mit dem Ding an seinem Arm meinst du die Narbe?«
»Ja.«
»Ich dachte, die stammt von dem Unfall.«
Adam schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat auf dem Pierein paar Tricks geübt und ist irgendwann so unglücklich gelandet, dass er sich den Arm an der Kante einer Bank aufgeschlitzt hat. Es war überall Blut.«
Wieder wanderte mein Blick zu der Wunde an meinem Knie, die klein und fast kreisrund war. Die Salbe darauf glänzte feucht.
»Alles zählt, jeder einzelne Kratzer«, sagte Adam noch einmal mit Nachdruck. »Letztendlich kommt es sowieso nicht darauf an, wie oft man runtersegelt, sondern wie oft man wieder aufsteigt. Solange das einmal mehr ist, ist alles im grünen Bereich.«
Ich lächelte ihn an. »Du solltest Motivationstrainer werden.«
»Nö, viel zu lahm«, erwiderte er nonchalant. »Hey, treibt Heidi sich hier irgendwo rum?«
»Nein, sie ist beim Mittagessen.« Ich verzichtete darauf hinzuzufügen, dass sie mit meinem Vater unterwegs war: ihre erste offizielle Verabredung seit seinem Auszug. Heidi war den ganzen Vormittag über so nervös gewesen, hatte unnötig im Laden rumgewirbelt, Auslagen umgeräumt und mir im Büro im Nacken gesessen, dass ich richtig erleichtert war, als sie sich endlich Isby umgeschnallt und das
Clementine's
verlassen hatte. Allerdings wurde ich in der Sekunde, als die Tür hinter ihr zugefallen war, selbst unruhig: Wie würde es wohl laufen? »Sie ist in ungefähr einer Stunde wieder da, schätze ich.«
»Ach so. Ja, dann lasse ich die einfach hier, okay?« Er stellte die Schachtel auf den Schreibtisch. Auf meinen neugierigen Blick hin fügte er hinzu: »Fotos von Abschlussbällen, die ich für diverse Jahrbücher gemachthabe. Heidi hat gemeint, sie braucht sie für die Deko bei der Strandparty.«
»Aha«, meinte ich, deutete auf die Schachtel. »Darf ich?«
»Klar.«
Ich hob den Deckel ab. Die Schachtel war vollgestopft mit Schwarz-Weiß-Fotos. Das oberste zeigte Maggie mit Jake. Sie standen am Strand, neben der Heckklappe eines Wagens. Maggie trug ein Anstecksträußchen ums Handgelenk, ein kurzes dunkles Kleid, hochhackige Riemchenpumps und offene Haare. Lachend hielt sie Jake, in Smokinghosen und weißem Frackhemd, eine Chipstüte hin. Er war barfuß. Ich betrachtete das nächste Foto: wieder Maggie, am selben Abend, allein. Sie stand auf Zehenspitzen vor einem Spiegel mit der Aufschrift COCA-COLA, um ihr Make-up zu
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