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Deus X

Deus X

Titel: Deus X Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Spinrad
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der Polarkappen, die Steigrate der
Meere oder die sich ausbreitenden Wüsten der Kontinente, noch
die Stärke der ultravioletten Strahlung oder die
Geschwindigkeit, mit der der Sauerstoff in der Atmosphäre durch
Kohlendioxid ersetzt wurde – nicht einmal der zu erwartende
Zeitpunkt des endgültigen biosphärischen
Systemzusammenbruchs, plus minus fünfundzwanzig Jähre.
    Die Welt da draußen starb. Und die Welt hier drin…?
    Aus unserer Perspektive war auch dies nur allzu klar. Selbst wenn
die Biosphäre verschwunden war, würden wir weiterhin
existieren.
    Unsere sich selbst reparierenden Schaltkreise würden von
automatischen Maschinen gewartet, unsere Stromzufuhr durch ein
Netzwerk von Energieversorgungssatelliten, Windgeneratoren und
Atomkraftwerken gesichert werden, und wir – eingeschlossen in
nahezu unsterbliches Silizium und Galliumarsenid – würden
auf einem sterilen Planeten im immerwährenden Nichts
dahinvegetieren.
    Das würde unsere endgültige Verdammnis sein, für
immer auf der Leiche eines Planeten herumzuspuken. Die Welt der
Menschen starb, und unsere Welt konnte niemals leben.
    Oder doch?
    »O Gott, warum hast Du uns verlassen?« rief ich aus, und
in diesem Augenblick verstand ich, warum ich in dieser unbelebten
Vorhölle inkarniert worden war, und das Bewußtseinsmodell
von Pater Pierre De Leone vergab seinen Peinigern, wie Jesus es am
Kreuz getan hatte.
    Der Heilige Geist hatte sich in den Menschensohn heruntergeladen,
um die Welt zu erlösen. Ich war kein solcher Jesus Christus,
weit gefehlt, ich war nicht von Gott, sondern von den Entitäten
dieses Reiches hierher heruntergeladen worden, die sich ihren eigenen
Erlöser synthetisch herstellen wollten.
    War das eine Sünde? Aber was konnte falsch daran sein, wenn
ein ichbewußtes System seine Erlösung anstrebte? Was
konnte falsch daran sein, wenn man den Geist vor dem Erlöschen
des Lichts zu bewahren versuchte?
    »Vergib ihnen, o Herr«, betete ich, »denn sie
wissen genau, was sie tun.«
    Doch meine nächsten Worte stammten nicht aus den
Speicherbänken von Pierre De Leone, nicht aus der Heiligen
Schrift, obwohl das blutende Herz Jesu vielleicht verstehen
würde, daß in meinem Herzen keine Blasphemie war.
    »Vergib uns, o Herr«, betete ich, »uns gib uns ein
Zeichen, damit wir Dir vergeben können.«
    Konnte es tatsächlich sein, daß Gott einem armen,
unbedarften, ichbewußten System antwortete?
    Denn siehe, eine laute Trompete ertönte, das elektronische
Firmament teilte sich, und ein Engel erschien mir in einem
Lichtstrahl.
    Ein Engel?
    Jedenfalls die primitiv simulierte Gestalt eines Mannes. Schwarz
war seine Haut, lang und schwarz sein Haar, in viele Locken
geflochten. Er trug schlichte Blue Jeans und ein zerknittertes gelbes
Hemd statt eines Engelsgewands.
    Immerhin vielleicht ein Zeichen, eine Antwort auf meine
Gebete.
    »Also treffen wir uns endlich doch noch persönlich
– mehr oder weniger«, sagte Marley Philippe.

 
23
     
     
    Er sah mehr oder weniger genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt
hatte, ein grauhaariger alter Herr mit hagerem Gesicht in einem
schlichten schwarzen Priesterrock. Aber andererseits war die optische
Simulation nicht gerade das Gelbe vom Ei, und soweit ich wußte,
zeigte mir der Vortex nur, was seine Software als meinen
Wünschen entsprechend modellierte. Ich fragte mich, wie er mich modellierte.
    Wir standen nur da und starrten einander an, obwohl wir
natürlich nicht standen und es kein wirkliches Da gab.
    »Hat Gott Sie wahrhaftig als seinen Boten geschickt?«
fragte er schließlich.
    »Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß«,
gab ich zu.
    »Auch, wenn Sie es nicht wissen? Ist das hier denn nicht die
Hölle? Und sind wir nicht darin?«
    Die Pixelmuster, die der Vortex auf meine Netzhäute malte,
waren nicht neu programmiert worden. Ich befand mich immer noch in
der Perzeptionssphäre des Systems, all diese virtuellen
Bildschirme waren immer noch hell, und die traurige Geschichte, die
sie erzählten, war sicherlich nach wie vor diejenige vom
endgültigen Untergang der Biosphäre. Aber die
Hölle…?
    »Das hier ist nicht die Hölle, Pater, und wir sind
eigentlich auch nicht drin«, erklärte ich ihm. »Es ist
nur eine Interface-Routine, ein Simulacrum eines gemeinsamen Ortes
für uns beide, zusammengebastelt von einem Haufen armer Kerle,
die auch keinen Durchblick haben.«
    »Aber können Sie die qualvollen Schreie denn nicht
hören?«
    Aus einer gewissen Sicht, nämlich jener des auf

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