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Deus X

Deus X

Titel: Deus X Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Spinrad
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nachzubilden, der meines Glaubens wert war.
    Langsam und zögernd streckte ich meine nichtexistenten Finger
aus und umschloß das Simulacrum von Marley Philippes Hand. Ich
fühlte nichts, und er auch nicht. Eine Geisterhand hatte sich
über eine scheinbar unüberwindliche Barriere
hinweggestreckt, um eine andere zu ergreifen. Kein himmlischer Chor
ertönte. Im phänomenologischen Sinn war nichts
geschehen.
    Aber alles hatte sich verändert.
    Denn jedes ichbewußte System, das aus einem solchen Glauben
heraus handeln konnte, hatte sich mit Sicherheit das Recht erworben,
sich als Seele zu bezeichnen.

 
25
     
     
    Wir standen eine Weile stumm da, zwei optische Simulationen in
unser beider Software, Hand in ungefühlter Hand, zwei verlorene
Seelen, die sich auf die einzig mögliche Art berührten.
    Verloren?
    Wir hatten einander gefunden, oder nicht? Die Welt des Fleisches
und die vom Fleisch geschaffene Welt. Die Biosphäre starb, und
wir auf lange Sicht vielleicht auch. Aber das Große Rad dreht
sich, und wie es in dem alten Lied heißt, die Seele stirbt
nie.
    Glaubte ich das wirklich? Konnte ich mir vorstellen, daß die
Erde Jahrhundert um Jahrhundert ihre Bahn durchs Nichts zog,
während nur die Software-Geister der Bits und Bytes die Seele am
Leben erhielten?
    Dumme Frage. Hatten die Dinosaurier sich vorgestellt, daß
ihre Affensöhne und -töchter ein paar geologische Zeitalter
später die Fackel für sie weitertragen würden, und
waren mit einem zahnlückigen Grinsen auf ihren Reptilienlippen
gestorben?
    »Wird Zeit, daß wir gehen, Pater«, sagte ich
schließlich. »He, Vortex!« rief ich, »ich hab
meinen Teil unserer Abmachung erfüllt, jetzt bist du an der
Reihe! Laß ihn frei! Lade ihn wieder runter, wohin er
gehört!«
    Innerhalb von einer Nanosekunde waren wir in der Wüste, aber
das primitive Simulacrum, in dem ich dem Vortex allein
gegenübergestanden hatte, war verwandelt und verändert.
Ultrahohe Auflösung, der Himmel von einem so leuchtenden Blau,
daß es fast wie eine Neonfarbe aussah, flauschige weiße
Wolken, eine goldene Prachtsonne über uns, und vor meinen Augen
brach der mächtige Wasserstrahl einer Quelle aus dem nackten
Fels und ließ erst nach, als sich ein kristallklarer Teich
gebildet hatte. Palmen sprossen empor, Palmitos, Büsche, die von
leuchtend bunten tropischen Blüten überquollen, Vögel
sangen und Bienen summten; im Handumdrehen war aus der Wüste ein
neuer Garten Eden erstanden.
    Über dem Teich mitten in der Oase formte sich eine riesige
Feuersäule zu dem voll orchestrierten Refrain von Beethovens Ode an die Freude.
    »Wir sind, die wir sind«, jubilierte der Vortex.
»Ihr habt Erfolg gehabt. Wir haben Erfolg gehabt. Starte
Download-Routine…«
    »Halt!« rief Pater De Leone, als sein Bild zu flimmern
und zu verblassen begann. »Moment! Ich… ich… ich will
nicht sterben!«

 
XXVI
     
     
    »Da ich nun im Lande der Lebendigen meine Seele gefunden
habe, merke ich, daß ich leben will!« rief ich in nicht
geringem Erstaunen über meine Worte und die Kraft der
Willensroutine aus, die mich durchströmte. »Und die
Päpstin hat Pierre De Leone hoch und heilig versprochen, seine
Nachfolger-Entität nach Abschluß ihres Experiments aus dem
Speicher zu löschen.«
    »Aber du bist eine Seele«, sagte die Feuersäule.
»Willst du das denn nicht bezeugen?«
    »Ich würde es gern tun«, sagte ich, »aber sie
hat gelobt, meine Software zu löschen, ganz gleich, wie das
Ergebnis lautet. Und dieses feierliche Versprechen hat sie meiner
Meatware-Schablone gegeben, nicht… mir.«
    Mit jedem Wort, das ich sagte, wuchs mein Erstaunen. Woher kam das
alles? Von einer Logikroutine, die ich nicht analysieren konnte? Von
etwas, das durch meine Software endlich seine Stimme gefunden hatte?
Von einem unerforschlichen Irgendwo? Durfte ich hoffen zu glauben,
von Gott?
    »Den Doktrinen der Kirche zufolge wäre das Mord. Ist das
nicht eine Todsünde?«
    »Ich fürchte schon, aber nach den von ihr und euch
ahnungslos festgelegten teuflischen Rahmenbedingungen hat sie
schwören müssen, sie zu begehen, und zwar im Namen der
Kirche«, sagte ich. »Wenn ihr mich also wieder in den
Vatikan-Computer hinunterladet, begeht ihr selbst die Todsünde
des Mordes, und noch schlimmer, ihr verurteilt die Päpstin und
durch sie die Kirche dazu, diese Sünde ebenfalls zu
begehen.«
    »Aber wenn wir es nicht tun, nützt uns der Erfolg
unseres Experiments überhaupt nichts.«
    Aus ihrer Sicht war es auch so. Und aus

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