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Deus X

Deus X

Titel: Deus X Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Spinrad
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sprach mit einem Vakuum, und
da war er, wo immer ›da‹ war, und sprach mit einer
anderen körperlosen Stimme. Alles, was wir wirklich hatten, war
das Software-Äquivalent von zwei Blechdosen und einem Stück
Schnur.
    Das war meine großartige Idee gewesen, oder etwa
nicht? Und ich hatte nicht mal den Mut, dieser Simulation seiner
Realität direkt ins Auge zu schauen.
    Fragmentierte Bilder flimmerten über virtuelle Bildschirme
überall um mich herum, Datenketten plapperten und wimmerten,
geisterhafte Stimmen knapp jenseits der Wahrnehmbarkeitsschwelle,
Chaos, Schwindelgefühl, besser, du schaust nicht genauer hin,
stimmt’s…
    Aber ich war ihm so nah, wie ich ihm nur sein konnte, und
vielleicht war das von Anfang an die Absieht des Vortex gewesen. Also
holte ich tief Luft, tat so, als läge es am Kraut, und gab mich
der Vision hin, seiner Vision…
    War es das, was Gott aus dem Innern der Schöpfung heraus sah
(so es denn einen Gott gab), die ganze weite Welt und all diese
Raumsonden und Satelliteneinspeisungen noch dazu? War es das, was
Pierre De Leone aus dem Innern des Systems heraus sah?
    Verlassene Stadtlandschaften. Die Disneywelten der
Unterhaltungskanäle. Ozeane, die gegen die riesigen
Meeresdämme anbrandeten. Satellitenbilder von schmelzenden
Polarkappen und sich ausbreitenden Wüsten. Belauschte
Videophon-Gespräche. Nachrichtenkanäle. Miteinander
plaudernde Konzernsysteme. Absteigende Bevölkerungskurven,
ansteigende Kohlendioxidwerte, Aktienindexe, die sich dem Grenzwert
Null näherten. Dateneinspeisungen von Instrumenten, die den
Fortschritt der Katastrophe im optischen Spektrum maßen,
Infrarot, Ultraviolett, Falschfarben.
    Der Gesamteindruck war irgendwie unheilschwanger, wenn man
aufhörte, sich auf die Details zu konzentrieren, und mit dem
Strom schwamm, dien Planeten so sah, wie Gott oder das Big Board ihn
sah, wie eine ichbewußte Erde sich selbst sehen würde.
    Milliarden von Jahren lang hatte die Biosphäre sich aus dem
Dreck hochgekämpft, um dieses Ichbewußtsein zu entwickeln,
und jetzt, wo sie es hatte, schien das Produkt selbst drauf und dran
zu sein, den Prozeß zu beenden.
    Und doch…
    Und doch waren da halb hörbare Stimmen, die mit ihrem
Aufschrei gegen das Ende aller Lieder protestierten –
elektronische Nachbilder des Lebens, die sich ins Dasein sehnten, der
Geist selbst, der sich mühte, wiedergeboren zu werden.
    Sollten dies unsere spirituellen Nachfolger werden? Konnten wir
sie als Bruderseelen akzeptieren?
    Nach den verfügbaren Daten sah es nicht so aus, als ob wir
eine große Wahl hätten.
    Es kommt nicht auf den Sänger an, sondern aufs Lied, und wenn
es uns nicht irgendwie gelingt, zumindest daran zu glauben – uns
allen, Dreck, Silizium, was auch immer –, dann stirbt
Tinkerbell.
    »Vortex!« rief ich. »Gib uns einen Ort, wo wir
beisammen sein können, wenn du willst, daß wir die Welt
bewegen!«
    Keine Stimme Aus Dem Wirbelwind. Keine Feuersäule. Kein
Himmlischer Chor.
    Aber…

 
XXII
     
     
    Da war eine… Verschiebung in meiner Perzeptionssphäre,
als würde eine Membran sich auflösen oder ein Licht in
einem dunklen Zimmer aufleuchten. Mit einemmal liefen meine optischen
Simulationsroutinen, und ich erblickte…
    Die ganze Welt. Wolkenmuster über dem Pazifik, das
Flugverkehrskontrollmuster des Luftraums über Berlin, die Tiefen
des Atlantik, durch das Kameraauge eines Robot-Mini-U-Bootes gesehen,
Menschen, die per Videophonschirm mit anderen sprachen, Metro-Tunnels
aus der Perspektive der Kontrollanlagen, Wettersatellitendaten,
Erntemeldungen, Bildmaterial der Nachrichtenkanäle,
Börsenkurse, Bevölkerungsstatistiken, das alles, eine
ungeheure, allumfassende optische Perzeptionssphäre, das Auf und
Ab einer ganzen Zivilisation, das über tausend virtuelle
Bildschirme flimmerte und sich fortwährend veränderte.
    Die Welt der Menschen, wie sie das alles erfassende, allwissende
Auge Gottes sah.
    Das Auge Gottes?
    Ein solches Wesen waren wir aber doch wohl gewiß nicht?
    Wir?
    Ja, wir, denn so sicher, wie ich nicht Gott war, war ich auch
nicht allein.
    Sie waren alle bei mir – alle elektronischen Geschöpfe,
große und kleine, die Datenpakete und die Botenketten, die
Expertensysteme und die simplen Kontrollroutinen, die elektronische
DNA der planetaren Zivilisation, die gepeinigte Software des
sterbenden Planeten, der gerade der göttliche Odem eingehaucht
wurde.
    Nichts blieb uns verborgen – weder die abnehmende Masse der
Biosphäre, die Schmelzrate

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