Deutschboden
war, sondern weil es während seiner Kindheit, der Jugend stattgefunden hatte – der Zeit, in der der Mensch nur dieses eine Leben, sein Leben, kannte. Schluss. Und wenn der Mensch sich an sein erstes Mal erinnerte, das erste Mal Zeltlager, das erste Mal Fummeln, Sex, K.-o.-Trinken, dann war es natürlich egal, ob diese schönen Dinge in einem Staat stattgefunden hatten, der seine Bürger eingekerkert, unterdrückt, ausgehorcht, verhöhnt und die freie Meinungsäußerung verboten hatte: klar.
Wenn Heiko erzählte, so dachte der Reporter, war es, als wenn Uropa von 1920 erzählte, nur war der hier eben nicht hundert, sondern erst knapp vierzig Jahre alt, und die irre Zeit lag nicht 85, sondern erst zwanzig Jahre zurück. Zwanzig Jahre waren ja gar nichts. Die Wiedervereinigung hatte Menschen älter gemacht, als sie in Lebensjahren waren, weil mit der Wende die Uhren auf Null gestellt worden waren und die Leben von vorne begonnen hatten – einer wie Heiko hatte es, obwohl erst 39 Jahre alt, schon auf zwei Leben gebracht: ein Leben, das 1989 beendet war, ein Leben, das seither andauerte.
Ich sagte, weil ich als Reporter im Einsatz plötzlich das Gefühl hatte, auf diese Banalität hinweisen zu müssen, dass das persönliche Glück die eine Ebene, das Unrecht des Staates, in dem man gelebt habe, die andere Ebene sei, diese zwei Ebenen der Wahrnehmung ließen sich eben nicht miteinander vermischen, sie hätten nichts miteinander zu tun. Der berühmte Satz »Es war nicht alles schlecht« sei eine Selbstverständlichkeit beziehungsweise eine Hirnrissigkeit, genauso hirnrissig wie der Satz: »Die DDR kann kein Unrechtsstaat gewesen sein, denn ich habe in diesem Staat viele fröhliche Pilsbiere getrunken.« Im Deutschland des Dritten Reichs oder im Apartheid-Regime Südafrikas, so argumentierte ich, am Tresen der Kneipe Schröder in Oberhavel stehend, sei es sicher auch möglich gewesen, das eine oder andere fröhliche Bierchen zu trinken, trotzdem seien beide Staaten Unrechtsstaaten gewesen.
Ich hatte mich mit dem DDR – Ding warmgequatscht: Da hätte ich gerne noch ein bisschen weitergemacht. Heiko nickte heftig: seine Art der Zustimmung zu dem von mir vielleicht etwas umständlich dargelegten Text. Er sag te: »Na sicher …!«, und nickte wieder. Und wollte, glaube ich, noch etwas sagen, aber er ließ es besser bleiben.
Und so hatten der Reporter und Heiko von der Gaststätte Schröder ganz nebenbei das große Feuilleton-Thema dieses Frühsommers – ein Ministerpräsident hatte die Frage aufgebracht, ob die DDR ein totaler Unrechtsstaat oder kein totaler Unrechtsstaat war – ausreichend gründlich besprochen und abgehakt.
Heiko beugte sich zum Reporter über die Theke: »Kennst du die Schlusssätze von Sonnenallee ? Da ist für mich alles drin, da stimmt für mich alles. Ganz zum Ende sagt der Typ …« Heiko nahm die Stimme des Erzählers in Leander Haußmanns Film Sonnenallee ein – der Typ im Film sprach anscheinend genauso wie Heiko Schröder in der Gaststätte Schröder zu Oberhavel, feierlich, versonnen, ein wenig weggetreten vom Gewicht der Erinnerung: »Es war einmal ein Land, und ich habe dort gelebt. Wenn man mich fragt, wie’s war: Es war die schönste Zeit meines Lebens. Denn ich war jung und verliebt.«
Das Lokal füllte sich, und Heiko konnte nicht mehr ganz so flüssig weiterplaudern. Kegel-Kalle stand schon wieder am Spielautomaten, drückte da auf den Tasten herum. Raoul hatte mir eine SMS geschrieben: Seine Spione hätten mich ausgemacht, als ich auf der Spandauer Straße unterwegs gewesen war. Heute Abend sei Bandprobe. Wenn ich dabei sei, dann sollte ich mich um acht vor der Kneipe Schröder einfinden. Ich würde abgeholt. Ich hatte Lust auf die bisschen härteren Sachen, es konnte, von mir aus, jetzt ruhig einen Zacken fieser, schwärzer, asozialer, gemeiner zugehen. Ich sagte: »Heiko? Die Rechnung, bitte.«
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11 Philipp-Müller-Straße (Spaziergang I)
Ich bekam noch einmal einen Schreck, wie dunkel das Haus Heimat schon von außen aussah: ein Ort, der gefühlt unter der Erde, nicht oberhalb der Erdoberfläche lag.
Dieses Mal hatte ich den Hintereingang durch die Kopekenstraße genommen: ein Holztor. Ich schloss auf, und mich guckten zwei Kinder an, ein Junge und ein Mädchen. Sie saßen im Eingang des Nachbarhauses. Beide, Junge und Mädchen, kippten gerade vom Kindsein zum Erwachsen-werden hinüber: Sie hatte fettige Haare, er rote Äuglein und ein fettig glänzendes
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