Deutschboden
während ich fand, dass Heiko recht hatte, und ich mich schon gut fühlen wollte bei dem Gedanken, dass Heiko recht hatte, fühlte ich mich plötzlich provoziert. Lustig, das war mir noch nie passiert: Ich fühlte mich als Westler von einem Ostler zur Verteidigung meiner West-Ehre herausgefordert.
Der Reporter unterbrach den Erzähler hinterm Tresen: »Komm, Heiko. Jetzt schwärmst du davon, was das frü her für schöne Zeiten waren. Früher, als wir noch jung waren.« Und damit der Abstand zwischen ihm, dem Erzähler, und mir, dem Zuhörer, nicht zu groß wurde, sagte ich: »Wenn ich davon erzähle, was ich mit zwanzig getrieben habe, dann kriege ich auch ganz feuchte Augen.« Und der Reporter haute nun, einem Impuls folgend, der ihm sagte, dass es ein Fehler gewesen wäre, mit seinem Unwohlsein hinter dem Berg zu halten, einen Hammerspruch heraus: »Hör auf, Heiko. Hör einfach auf, mir diesen sentimentalen Mist zu erzählen. Die DDR war doch ein Scheißstaat.«
Er war sofort da und beugte sich übern Tresen, er schlug mit der Faust, exakt so stark, dass er sich nicht wehtat, auf die Theke. Heiko: »Das kann ich nicht sagen, dass die DDR ein Scheißstaat war, das kann ich wirklich nicht sagen …« Er zögerte: »Nein. Für mich war das kein Scheißstaat.«
Dann sprachen wir beide volle fünf, sechs Sekunden nicht.
Heiko hatte das sehr genau bemerkt, dass der Reporter sich hier ein Ding erlaubt hatte. O ja, er hatte das mitbekommen. Man konnte dem Mann hinterm Tresen dabei zusehen, wie er sich, kraft seiner Lebenserfahrung und sozialen Kompetenz, die sich in Tausenden von Kneipengesprächen gebildet hatte, dazu entschied, dem Fauxpas des Reporters nichts weiter zu entgegnen. Im Gegenteil, dieser Heiko setzte darauf, dass die Stimmung an diesem Nachmittag in der Kneipe Schröder eine pilsig friedliche blieb. Heiko sprach mit Plauderstimme weiter, so, als wäre nichts vorgefallen: »Dass es keine Missverständnisse gibt: Ich möchte die DDR nicht zurückhaben. Vom Sozialen her war es besser. Aber vom Staat her hat es nicht funktioniert.« Und Heiko schloss mit einem herrlichen Pilstrinker-Spruch, der in jede gute deutsche Pilskneipe gehörte: »Der Kommunismus, sage ich immer, ist von der Sache her ja das Beste, was es gibt. Ist aber leider nicht umsetzbar.« Und Heiko erzählte noch ganz etwas anderes. Er erzählte, dass man das Bier zu Ostzeiten warm, also temperiert, also auf Zimmertemperatur, jedenfalls nicht kalt getrunken habe.
Kleine Verständnispause beim Reporter.
Wo?
Was?
In der DDR war das Bier warm? Ganz recht. In der DDR habe man das Bier nicht kalt, eher lauwarm, also auf Zimmertemperatur, bisschen kälter als lauwarm getrunken. Wenn zu Winterzeiten die Bierlieferung gestockt und man erst in letzter Minute die Fässer in die Keller bekommen habe, dann habe die Stammkundschaft gemault, weil das Bier zu kalt aus dem Zapfhahn kam. Dann habe man, so Heiko, schon mal einen Tauchsieder hinter der Theke rausgeholt und in das Bierglas reingehalten, damit sich das Bier auf eine schöne Trinktemperatur erwärmte.
Unerhörte Geschichte. Der Reporter staunte. Ich erklärte Heiko, dass ich sicher war, in diesem Jahr noch keine so ganz und gar erstaunliche Geschichte gehört zu haben, und dass ich ebenso sicher war, in diesem Jahr nicht noch einmal eine Geschichte zu hören, die so neu, erstaunlich und absolut unerhört war wie die Geschichte, dass man in der DDR das Bier auf Zimmertemperatur getrunken habe.
Wir tranken dann noch eins.
Einmal den Hahn durchgezogen.
Frühe Biere. Prost.
Die Theke im Schröder, die aus beigem Pressholz war: Sie war der letzte für jeden sichtbare Hinweis darauf, dass die Gaststätte Schröder ein Lokal war, das auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stand. Und selbst diese Theke hätte genauso gut in einer Stadt im Ruhrgebiet, in dem sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel getan hatte, stehen können: in Essen, Gelsenkirchen.
Der Reporter hatte gedacht – noch in Berlin war ich mir da sicher gewesen –, dass es traurig, auch ein bisschen eklig sein würde, einen Ost-Menschen von der untergegangen DDR schwärmen zu hören. Und nun hatte es mir doch ganz gut gefallen. Der Reporter hätte Heiko gerne noch eine Stunde länger von früher erzählen gehört.
In Heikos Erzählung klang das Lob der DDR wie eine ganz selbstverständliche, wie eine natürliche Sache: Der Mensch mochte einfach das, was früher war, nicht, weil es gut oder schlecht, recht oder unrecht
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