Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
Vom Netzwerk:
erwehren.
     
    Auf dem Weg vom Boxclub zurück in die Heimat blieb ich auf der Probstbrücke stehen und lehnte mich über das Geländer: Beim Training war ich weit über das hinausgegangen, was mein Körper zu leisten gewohnt war.
    Der Fluss floss langsam, er stand fast still. Meine Knie zitterten. Die vom Sport noch nasse Kleidung klebte am Oberkörper, der warme Maiwind strich den Fluss hinauf. Große Unruhe oben in der Luft und in den Zweigen, da, wo die Vögel unterwegs waren. Es war wieder die irre Tageszeit, in der die Mutter Erde meldete, dass es sie auch noch gab, und der Tag, bevor es in den Abend hinüber ging, noch einmal tief Luft holte: noch vor 18 Uhr.
     
    Ich drehte um, und statt ins Hotel lief ich zur Stadt hinaus, dorthin, wo ich am ersten Abend mit dem Auto gelandet war, und weiter. Die Straße hieß Dammhaststraße, und hinter der Kreuzung hieß sie Philipp-Müller-Straße.
    Vor einem Imbiss stand ein Mann mit Krücken. Ein Auto kam im Rückwärtsgang vorgefahren, der Mann wies, indem er mit den Krücken bald dort und da hin zeigte, das Auto am Straßenrand ein. Die Funcar-Autovermietung: Hier konnte man Fahrzeuge mieten, die wie eine Mischung aus Motorrad und Rasenmäher aussahen. Auf einer mit Fliesen eingefassten Fassade hing ein Schild, das eine Kakerlake und eine Ratte zeigte, daneben der Schriftzug: »Oberhaveler Schädlingsbekämpfung/Holz, Bauten, Gesundheitsschutz«. Die Straßenschilder wiesen Richtung Templin.
    Die Häuser waren zwei- oder dreistöckige Arbeiterhäuser, alle aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Grau nach Grau nach Grau. Dann Scheißgrau, dann Kackgrau. Verdreckte Stromkästen. Mülltonnen auf der Straße. Die wenigen renovierten Häuser hatten keine Chance. Statt Bürgersteigen gab es Erdpisten, von Kopfsteinpflaster unterbrochen. Nur leer stehende Ladenlokale. Hinter den Schaufenstern mit der Aufschrift »Blumen, Geschenke, Getränke« hingen die Tapeten von den Wänden.
     
    Heiko hatte dem Reporter erzählt, dass die Gegend hinter der Probstbrücke vor allem von Einheimischen der älteren Generationen Schwindel-Schweiz genannt würde. Schwindel-Schweiz.
    Warum Schwindel-Schweiz, Heiko?
    »Keine Ahnung«, hatte Heiko gesagt, »das heißt da eben so.«
     
    Es nahm die Tristesse hier irgendwie noch mal eine höhere Geschwindigkeit auf, das Grau kam von weiter her und wollte weiter hinaus: Der geschützte Raum der Innenstadt fiel weg. Man stellte sich vor, dass diese Straße zehn, zwanzig, vielleicht hundert Kilometer immer so weiterging. Autos fuhren achtzig Stundenkilometer und schneller. Ich erhöhte mein Lauftempo.
    Da stand ein Trabant, der Volkswagen der DDR, in der immer wieder phänomenal beschissenen Farbe Erbsengrau. Hier war überhaupt noch viel DDR zu sehen. Vor zwanzig Jahren hätte der West-Besucher beim Anblick dieser Ost-Straße den grausamen Satz gesagt: »Die armen Menschen, die hier leben müssen …« Und noch heute sah es hier exakt so aus, wie die in Berlin sich eine beschissene Kleinstadt in der beschissenen Mark Brandenburg vorstellten.
    Ich war etwa zehn Minuten gelaufen. Die Straße gabelte sich auf. In der Mitte der Straße tauchte ein mit Eisenrollläden verschlossener Imbiss auf: Asia-Bistro. Links davon ging es in etwas hinein, was man als Industriegebiet deuten konnte: Brachen, Baracken, Garagen, zerfallene Backsteingebäude, geparkte Sattelschlepper, die Raouls Vater Siggi gehören mussten. Die Waldstraße.
    In der Gaststätte Schröder hatte mir Raoul von dieser Gegend erzählt – wieder in seiner phänomenal drastischen, merkwürdig altmodischen Sprache. In der Waldstraße, so Raoul, wohnten die Asozialen, das Geschmeiß, Gesocks, das Kroppzeug, nur Ex-Knackis und Alkoholiker. Vollidioten, hatte Raoul gesagt, nichts weiter Gefährliches. Zu Nazizeiten, so Raoul, hätten in der Waldstraße die härtesten Skinhead-Partys stattgefunden, und das seien natürlich damals die besten Partys gewesen. Sei alles eine Ewigkeit her. Ich nahm die Straße rechts.
     
    Es wurde schnell noch trister: heruntergelassene Rollläden, zerschmissene Fenster, ausgehängte Türen. Links an der Straße tauchte die Diskothek Traxx auf, der Club, von dem Blocky und Raoul erzählt hatten: der üble Laden, die fertige Kaschemme, das finstere Loch.
    Haus, Eisentor, Garage. Über der gesamten Fassade hing, etwa zehn Meter hoch, eine grüne Plane mit der Aufschrift »Cocktails«. Das Tor war mit den Signalworten »Neu Traxx Neu Jeden Samstag Wochenenddrink

Weitere Kostenlose Bücher