Deutschboden
galt der brüllende Männerchor dem Mädchen, das hinter der verschlossenen Tür den Nachtschalter bediente. Fünf Jungs hatten sich in einer Reihe aufgebaut, die Hände zu Trichtern geformt, und grölten im Chor: »Mandy! Du geile Sau!«
Raoul: In jeder Minute der vergangenen sieben, acht Stunden, den stillen und den lauten, war er in der Rolle des Anführers geblieben. Er war stets obenauf, stets Herr der Lage. Sein Bruder Eric gab die Rolle des seitlichen Unterstützers, des stillen Teilhabers, des unbeteiligten Betrachters. Beide, Raoul und Eric, spielten ihren Part gut.
Die Rituale des Zeit-Verplemperns. Wahrscheinlich hatten sich diese Rituale in den letzten fünfzig Jahren wirklich kaum verändert. Es ging unentwegt darum, die Zeit zu dehnen – das hieß, den faktischen Ablauf der Zeit neu auszulegen. Komisch, aber hier an der Tankstelle schien die Zeit nicht die Jungs, sondern die Jungs schienen die Zeit zu bestimmen. So konnten aus drei Minuten eine halbe Stunde und, andersherum, aus einer halben Stunde drei Minuten werden. Das fand hier unentwegt statt.
Das Dehnen, das Aushebeln der Zeit, so glaubte der Reporter beobachtet zu haben, war kein abgehoben metaphysischer, sondern ein sehr konkreter Vorgang, der mitden Körpern der Jungs bewerkstelligt wurde. Man konnte wirklich sehen, wie die Jungs mit ihren Körpern die Zeit auf den Rücken drehten: Das fand so statt, das war für jeden gut zu beobachten. Auf eine Art sah der Reporter, wie es den Jungs immer wieder gelang, sich neben die Zeit, nicht in sie hinein zu stellen. Wichtig war sicherlich, die Füße und Beine ständig in Bewegung zu halten. Wer mit den Füßen nicht in Bewegung blieb, der klebte fest. Wichtig war sicherlich auch, dass man unentwegt signalisierte, auf dem Sprung zu sein: In ein, zwei, spätestens in drei Minuten, so musste ständig gesagt werden, wolle man schon wieder weg sein. So konnte man gut immer noch eine halbe Stunde lang bleiben.
Jungs, die ich auf der Tankstelle kennenlernte, hatten, je später es wurde, die immer besseren Namen, sie hießen:
Falco.
Bottrop 2000.
Hatfield.
Sechsa.
Smokey.
Dingdong.
Phase.
Van Damme.
Hief Lätscha.
Ich mochte sie alle, und sie waren mir alle ein bisschen egal.
»Die sind jünger als wir«, hatte Eric über die Jungs von Aral gesagt, als wir am frühen Abend auf die Tankstelle gefahren waren. Und tatsächlich, im Feiern und Fröhlich- sein lagen eine Unbeschwertheit, ein Pragmatismus undeine Zuversicht, die mir nicht gegeben waren und die ich letztlich nicht verstand.
Vielleicht hatte ich Raoul und Eric auf meiner Seite, vielleicht wollte ich sie da auch nur haben.
Die Trennungslinie zwischen den Jüngeren und den Älteren lief jedenfalls da lang, wo bis 1989 die Mauer gestanden hatte: Auf der einen Seite waren die, die eine Erinnerung an die DDR hatten, auf der anderen Seite die ohne Erinnerung. Die einen kamen aus einer uralten Vergangenheit, die im 20. Jahrhundert begonnen hatte, vielleicht 1949, vielleicht noch früher, die anderen hatten exakt das Alter, das in ihrem Personalausweis stand: 20 oder 21 Jahre. Der Abstand zwischen diesen beiden Generationen aber konnte in Wirklichkeit, so wie Eric das erklärt hatte, ein marginaler sein: wenige Monate, ein Jahr, wenige Jahre, kein Abstand.
Die Zukunft der Jungs von Aral konnte ich mir vorstellen, es war keine großartige, oft nicht mal eine okaye Zukunft, aber, immerhin, man sah etwas: Ausbildung oder keine Ausbildung, Arbeit, keine Arbeit, Zeitarbeit, Kinderkriegen, manche ohne, manche mit Hochzeit, lebenslange Mitgliedschaft im Sportverein, Autos, Fernseher, Häuser auf Pump, einer schaffte es bis ins Ausland, zwei nach Berlin, der Rest der Jungs blieb in der Kleinstadt hängen, einer fuhr mit dem Auto gegen den Baum, einer würde beim Alkohol landen, einer bei den Anonymen Alkoholikern.
Bei meinen Jungs, die Raoul, Eric und Rampa hießen, war ich weit weniger sicher. Es war, als ob die Erinnerung an die DDR sie klüger, kräftiger, breiter gemacht hatte, aber natürlich auch unbeweglicher. Ich glaubte, sie quer in der Gegenwart drinhängen zu sehen. Auf eine Art vertrug die Gegenwart sich nicht mit ihnen. Ich sah sie öfter zögern. Ich sah sie sich immer wieder distanzieren, auf Abstand gehen. Sie warteten ab, und diesen Sommer, den Rest des Jahres und die kommenden Jahre wollten sie, vor allem, weiter abwarten. Für mich, den Reporter, sah es so aus, als ob meine Jungs auf etwas warteten, mit einer
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