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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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stoischen, geradezu heroischen Ruhe auf ein Ereignis, eine Störung von außen warteten, von dem sie selber am besten wussten, dass es nicht mehr kam. Über die Jungs von Aral, das wusste der Reporter, würde es nicht mehr viel zu berichten geben: Es konnte die Übertragung hier praktisch stoppen. Meine Jungs aber, die Jungs von der Band 5 Teeth Less, wollte ich weiter anschauen, damit es – was sich wunderbar und richtig anfühlte – weiter nichts zu verstehen gab.
     
    Es herrschte nun die Sorte Verbrüderung, bei der der Lauteste die anderen, die gerade nicht so laut sein konnten, zum Saufen, Lachen, Fröhlichsein zwang – da wurde dem Reporter noch einmal ein sagenhafter Haudegen, gewissermaßen der King der Tankstelle, vorgestellt:
    Der Reporter hatte ihn schon im Auge gehabt. Er war mittelgroß und mittelkräftig. Er hatte einen großen Kopf, kurze Haare, seine kleinen Augen wirkten müde. Er trug einen Blaumann, die Arbeitshose des Handwerkers. Er war noch jung und sah doch so aus, als ob er schon einiges weggesoffen hätte in seinem kurzen Leben. Im Nacken, das hatte der Reporter noch aus der Ferne erspäht, hatte er, King der Tankstelle, das Kürzel »110 Abrizz« eintätowiert. Auf seiner rechten Schulter lag ein Beil, den Griff des Werkzeugs hielt er in seiner rechten Hand. So, Beil haltend, Blaumann tragend, musterte er den Eindringling. Es war, alles Schöne zusammengerechnet, was ich heute auf der Tankstelle erlebt hatte, der schönste, ein wahrhaft königlicher Anblick.
    Raoul erklärte: »Ditt ist Hundertzehn-Prozent. Wir nennen ihn Hundertzehn, weil er alles, was er anstellt, zu hundertzehn Prozent erledigt.« Und Raoul fuhr fort, im Tonfall desjenigen, der wusste, dass er eine gute Geschichte erzählte: »Wenn Hundertzehn besoffen ist, dann ist er richtig besoffen. Wenn er Scheiße baut, dann baut er richtig Scheiße. Wenn er beim Zelten einschläft, dann liegt er garantiert mit dem Kopf in der Fleischschüssel.« Wir gaben uns die Hand.
    Der Reporter fragte den King im Blaumann, was er mit dem Beil heute noch vorhabe.
    Hundertzehn: »Nüscht mehr. Obwohl? Vielleicht hacke ich noch irgendwo einen Baum um.«
    Er grinste.
    »Einen dünnen.«
    Das ziemlich gute, ziemlich gekonnte Grinsen des Abrizz 110, der ein Beil auf der rechten Schulter trug.
    Es war gut für heute.
     
    Der Nachtschalter war – das war ja das Schöne – bis zum nächsten Morgen geöffnet: dann, wenn um sieben Uhr früh von innen aufgeschlossen werden würde.
    Es war die ganze Vorstellung, das verstand der Reporter, absolut nichts Besonderes gewesen: eine von vielen Nächten, eine für die Jahreszeit vielleicht ein bisschen zu warme, eine laue Frühsommernacht.
    Als der Reporter die Castrop-Rauxel-Allee in Richtung der Stadt hinaufging, sah alles friedlich aus. Die Frau mit den langen Jeansbeinen hatte neben Raoul Platz genommen.

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21 Was sonst noch geschah
    Mehr Sonnentage. Wir saßen noch einmal und noch etliche Male mehr an einem Steg am Wasser, und ich sah, was mich natürlich wieder vollkommen umhaute, dass Marcin auf seinem Bauch die alte DDR – Postleitzahl von Oberhavel eintätowiert hatte.
    Über die Straßen der Kleinstadt sang Lady Gaga, wieder unerträglich laut, den Smashhit des Jahres: »P-P-P-Pokerface«. In der Dresdner Bank am Marktplatz tauchte an der Wand mit den zum Verkauf stehenden Immobilien ein Foto vom Haus Heimat auf. Das Kurzexposé, mit dem meine Pension angepriesen wurde, lautete: »Baujahr um 1900. Restaurant mit 65 Plätzen; Clubraum mit 20 Plätzen; 5 Doppelzimmer mit Pension; Biergarten in Fußgängerzone.« Ziemlich zuversichtliche 160000 Euro wollte Wilfried Finster für sein Haus Heimat haben. Und weiter hieß es im Verkaufsgesuch des Wirts: »Der Betreiber und Eigentümer gibt den Gaststätten- und Pensionsbetrieb aus Altersgründen auf und macht Platz für den Generationswechsel.«
    Die Bild – Zeitung brachte die Schlagzeile, die sie in den vergangenen zwanzig Jahren schon etwa zwanzig Mal gebracht hatte: »Jeder vierte Deutsche will die Mauer zurück«. Kommentar Raoul: »Und wo haben sie die Umfrage gemacht? In Stuttgart?«
    Ich fragte die Alte im Lotto-Toto-Laden am Kirchplatz, weil ich sie das jeden Morgen fragte: »Und? Alles in Ordnung?« Und die Alte antwortete, wobei sie die Hände in den Rücken stemmte: »Ich merke nichts mehr.« Und weiter?
     
    Ich ließ mir von Schraube, wie wir es verabredet hatten, eines Abends in der Tätowierstube bei ihm zu Hause sechs

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