Deutschland 2.0
Phänomen aber auch eine Erfolgsgeschichte. Über eine Million ostdeutsche Auswanderer
im eigenen Land haben sich seither in den Westen integriert. Ohne ihre Aufnahme in die alte Bundesrepublik wäre die Einheit
nur schwer gelungen. Diese Ost-West-Migranten haben den Westen aufgefrischt wie zuvor nur die Vertriebenen aus den verlorenen
Ostgebieten, die in den späten vierziger und fünfziger Jahren unter erheblich schwereren Bedingungen ihre Heimat aufgeben
mussten. Jörg Lau, Redakteur der ›Zeit‹, hat diese deutschen Einwanderer nach Deutschland einmal als »Agenten der Modernisierung«
beschrieben. Soll heißen: Wer alles hinter sich lässt, ist zu dreifacher Anstrengung in der neuen Heimat gezwungen. Die Vertriebenen
werden bis heute oft mit rechtslastigen Ewiggestrigen gleichgesetzt. Genauso unterstellt man Ostdeutschen oft Xenophobie,
einen peinlichen Hang zuFolklore oder zu nach kaltem Rauch schmeckendem Kulturkonservatismus. Dieser Blick ist mehr als ungerecht. Vertriebene und
DD R-Umsiedler haben sich in der Geschichte der Bundesrepublik buchstäblich mehr bewegt als jeder Bewohner der satten Wirtschaftsregionen
in Südwestdeutschland. Ohne ihren persönlichen Einsatz, ihre private Mobilität und ihre Bereitschaft, Gewissheiten und Gewohnheiten
hinter sich zu lassen, wäre der Westen längst nicht so modern, wie er sich selbst gerne sieht.
Auf der anderen Seite: Während sich unsere osteuropäischen Nachbarn selbst an den Haaren aus dem realsozialistischen Sumpf
ziehen mussten, hat auch der viel geschmähte Wessi im Osten ordentlich mitangefasst. Und zwar nicht nur mit Hilfe seines Gehalts,
von dem seit 1991 mit dem Solidaritätszuschlag zunächst 7,5 Prozent, heute 5,5 Prozent Monat für Monat auf die Einkommenssteuer geschlagen werden. Vor allem Anfang der neunziger Jahre tauchte in den neuen
Ländern ein neuer deutscher Phänotyp auf: der sogenannte Wossi.
Wossis waren und sind jene Deutsche, die nach dem Fall der Mauer Ernst gemacht haben mit der Einheit. Sie gingen als Ostler
in den Westen – und umgekehrt. Die Wossis waren und sind die inoffiziellen Botschafter im eigenen Land. Ohne sie wären wir
Deutsche uns auch nach zwanzig Jahren Einheit noch immer sehr fremd.
Natürlich gibt es mehr Wossis mit ostdeutschen Wurzeln als umgekehrt. Seit 1945 hat Ostdeutschland bzw. das ehemalige Territorium
der DDR etwa vier Millionen Menschen an den Westen verloren. Der Anteil der Wossis mit westlichem Migrationshintergrund ist
bedeutend geringer. Wer als Westler nach der Wende in den Osten ging, suchte meist nicht nur Arbeit, sondern vor allem seine
Karriere.
Diese Wossis waren – meist männliche – Zeitgenossen, die von westlichen Parteien, Organisationen, Unternehmen oder Verbänden
in den Osten geschickt wurden, um Aufbauhilfe zu leisten.Das Wossi-Leben produzierte deutsch-deutsche Einsichten – und Missverständnisse.
Man traf die Wossis als wissenschaftliche Mitarbeiter ostdeutscher Parlamentarier, als Manager in Banken und Sparkassen, als
Berater und Sekretäre in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, als Analysten in Betrieben und Fabriken. Viele Wossis pendelten
am Wochenende nach Hause, manche holten ihre Familien nach. Schon nach kurzer Zeit sehnten sich viele nach einem vernünftigen
italienischen Restaurant, einem anständigen Weinhändler, einem originellen Programmkino oder einem Radiosender, in dem ausnahmsweise
mal keine Volksmusik oder deutsche Schlager gespielt wurden. Das Leben im Osten erschien ihnen hart und entbehrungsreich,
so hart, dass Autovermieter wegen der schlechten Straßen im Osten die Reifen aus der Versicherung nahmen.
Die Übersiedlung der Wossis von West nach Ost stieß nicht überall auf Gegenliebe. Im sächsischen Landtag beklagte der Fraktionschef
der Linken Mitte der neunziger Jahre gar eine vermeintliche »Überfremdung« des Ostens durch zugereiste Wessis.
Viele Wossis wurden als DiMiDo-Angestellte verspottet, weil sie nur von dienstags bis donnerstags ihren Aufgaben nachgingen
und an Montagen und Freitagen schon wieder mit der beschwerlichen An- und Abreise beschäftigt waren. Wegen der schlechten
Straßen und der langsamen Eisenbahnen konnten sich diese tatsächlich in die Länge ziehen.
In den Jahren 1993 / 94 habe ich selbst als Wossi im Osten gearbeitet – als Korrespondent für den ›Spiegel‹ in Erfurt. Die Euphorie der Wiedervereinigung
war längst verflogen. Trotz der zur
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