Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
überparteilichen Staatsräson unseres demokratischen Wohlfahrtsstaats geworden.« 57 Es kann einiges anders kommen, wenn die Nettoreproduktionsrate der deutschen Mittelschicht und insbesondere der Bevölkerung mit hohem Bildungsstand wieder steigt. Auch ohne Einwanderung könnte der Trend zur Vergreisung umgekehrt und in zwei Generationen wieder eine günstigere Bevölkerungsstruktur erreicht werden, weil sich auch die Intelligenten nicht mehr unterdurchschnittlich fortpflanzen. Dazu wird es aber nur kommen, wenn, ja wenn die Deutschen ziemlich rasch und recht radikal ihr Geburtenverhalten ändern , und das heißt, dass die Unterschicht weniger Kinder bekommt und die Mittel- und Oberschicht deutlich mehr als bisher.
Hebel und Ansatzpunkte dafür gibt es, man muss sie allerdings auch bedienen wollen. Dafür sehe ich in Deutschland gegenwärtig leider weder gesellschaftliche noch politische Mehrheiten. Man hält es lieber mit der von Birg beklagten Verdrängung. In wenigen Jahrzehnten, wenn die prognostizierten Bevölkerungsverschiebungen in voller Entfaltung sind, wird es aber zu spät sein. Jede der denkbaren Maßnahmen, die einen Umschwung bewirken könnten, trägt einen Widerspruch in sich. Fast alle können bei entsprechendem Blickwinkel als politisch anstößig bezeichnet werden.
Voraussetzung für jede tatsächliche Änderung ist ein gesellschaftlicher und politischer Konsens dahingehend, dass es dringend, zwingend und alternativlos ist, die Geburtenrate in Deutschland erheblich zu steigern und gleichzeitig die Anteile der Mittel- und Oberschicht an den Geburten deutlich zu erhöhen. Wenn darüber Einigkeit herrscht, lässt sich ganz anders über die zu ergreifenden Maßnahmen diskutieren. Ohne solch einen Konsens wird alles zerredet werden und an inneren Widersprüchen scheitern.
Der schwedische Soziologe Gunnar Myrdal hat sich am Beispiel seines Heimatlandes bereits in den 1930er Jahren intensiv damit auseinandergesetzt, dass eine entwickelte westliche Gesellschaft in der Summe die Tendenz hat, weniger fruchtbar zu sein, als es für die
Nachhaltigkeit ihres Fortbestandes notwendig wäre, und er hat sich auch damit auseinandergesetzt, dass es darüber hinaus nicht gleichgültig ist, wer die Kinder bekommt. 58
Sozialisation und die Logik des gelebten Lebens
Die bürgerliche westfälische Familie Sarrazin, der ich väterlicherseits entstamme, ist im 19. Jahrhundert stark gewachsen. Das nahezu einheitliche Muster der Familiengründung lässt sich anhand des Familienarchivs gut verfolgen: Die jungen Männer machten eine Ausbildung und erste berufliche Schritte, bis sie eine auskömmliche Anstellung hatten. Im Alter zwischen 27 und 32 hielten sie um die Hand einer Tochter aus gutem Hause an, also um ein Mädchen mit guter Erziehung und einer gewissen Mitgift. Die jungen Frauen waren mindestens 19, aber kaum älter als 25 Jahre. Dann kamen in rascher Folge vier bis sieben Kinder, und wenn die Frau Anfang bis Mitte 30 war, war die Phase der Familienbildung abgeschlossen. Scheidungen sind mir aus dem Familienarchiv nicht überliefert. Mütterlicherseits war das Muster bei meinen Vorfahren ähnlich, und es setzte sich fort bis zur Generation meiner Eltern.
Im 19. Jahrhundert konnte keine Rede davon sein, dass die gebildeten Schichten unterdurchschnittlich fruchtbar waren, im Gegenteil: Ein erstaunlich großer Teil der Menschen heiratete gar nicht, weil er nicht die Mittel zur Gründung einer Familie hatte, und die Kindersterblichkeit unter den Armen war hoch. Wer heiratete, hatte allerdings umso mehr Kinder. In einer Hinsicht stand die DDR noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Die Frauen bekamen früh Kinder, selbst die Studentinnen und späteren Akademikerinnen, und zwar großenteils noch während des Studiums. Das hatte sogar Vorteile, denn man erhielt eher eine Wohnung. Überdies gab es genügend Kitas und Krippenplätze, so dass man trotz Kindern studieren konnte. Das in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten bekannte Phänomen, dass Frauen mit hoher Bildung weniger Kinder bekommen, kannte man in der DDR nicht. Es »lohnte« sich dort aber auch nicht, Kinder
zu bekommen und auf diese Weise durch Geldleistungen den Lebensstandard zu verbessern. Die Grundbedürfnisse waren für alle gedeckt, und kaufen konnte man nicht so viel. Darum gab es auch keine überdurchschnittliche Geburtenhäufigkeit in der Unterschicht.
Die im Verhältnis zur alten Bundesrepublik höhere Fruchtbarkeit der Gebildeten und
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