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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Doch bevor er den Eindringling vom Privatgelände verweisen konnte, erkannte er mich. Als echter Landstreicher hätte ich hier sicher keine Schnitte Brot bekommen, als Altschüler aber, von dem man wußte, daß er es schon zu etwas gebracht hatte, war ich natürlich herzlich willkommen.
    Ich beziehe also Quartier im komfortablen Haus meiner Religionslehrerin Zimmermann, genannt Zete , die vor kurzem gestorben war. Die ganze kultivierte Residenz dieser strengen Matriarchin steht mir zur freien Verfügung, mit Jugendstilbildern und geklöppelten Tischdecken, vielen Büchern und ohne Fernseher. Hier kann ich wieder Kraft schöpfen und in Ruhe mein Tagebuch schreiben, von hier aus mache ich meine nostalgischen Exkursionen zur Friedhofsbank, auf der mir Dagmar beibrachte, wie man richtig küßt, zum Hochsitz, von dem aus mein Freund Martin und ich mit einer Schreckschußpistole ein Leuchtkugel-Feuerwerk veranstalteten, in den Kohlenkeller, wo ich auf meiner Trompete Adventslieder übte, zum großen Duschraum, in dem wir pubertierenden Knaben jeden Donnerstagabend den spätentwickelten Axel, das »Baby«, mit Waschlappen »steinigten«, weil er noch immer »unten Glatze«, also keine Schamhaare hatte.
    Von Zetes Haus gehe ich auch meine alten Lehrer besuchen, Frau Lehmann (Deutsch), in die ich mal sterbensverliebt war, Herrn Neubert (Tischlerei), aus dessen Werkstatt die Federschale stammt, die noch heute auf meinem Schreibtisch steht, und natürlich auch Harry Freitag (Mathematik), inzwischen ein alter Mann, den wir duzten und an dessen ausgestreckten starken Armen es sich wie an Reckstangen turnen ließ. Auch Herr Brüning, der Gärtner, ist nicht mehr der Jüngste. Da er es mit dem Herzen hat, wächst der Rasen schneller, als er ihn schneiden kann, und bis zur Pensionierung geht noch ein Jahr ins Land. Nur zu gerne helfe ich ihm ein paar Stunden am Tag und fahre mit der Mähmaschine das weitläufige Gelände ab.
    Die Schüler sehen das mit skeptischem Staunen. Viele sind offensichtlich Kinder aus gutem Hause, mit modischem Popperhaarschnitt, Schottenrock und Siegelring, sie tragen ihre Schulhefte in feinen Aktenköfferchen schon so souverän in die Klassenzimmer, als ginge es zur Vorstandssitzung des Aufsichtsrats — und nirgendwo mehr kurze Hosen! »Nichts ist mehr so wie früher«, sinniere ich mit dem gleichen Anflug nostalgischer Traurigkeit, mit der schon zu meiner Schulzeit die Altschüler darüber klagten, daß ihre Zeit nicht stehengeblieben war. Ich will es einfach nicht wahrhaben, daß auch damals, »zu meiner Zeit«, viele meiner Mitschüler wie auch ich aus sogenannten »guten«, wenn auch meist kaputten Elternhäusern stammten; dem deutschstämmigen Vater meines Bettnachbarn Alex gehörte ein Sechstel aller Kaffeeplantagen El Salvadors. Wie heute wollten auch früher die meisten hier nur das leider unumgängliche »Zeugnis der Reife« erwerben, um sich dann ins gemachte Bett zu legen. Vom Geist der Jugendbewegung, in dem das Landschulheim Anfang dieses Jahrhunderts gegründet wurde, vom Protest gegen die verlogene bürgerliche Welt und von der Hinwendung zum freien natürlichen Leben war auch damals, bis auf vereinzelte kurze Hosen, nicht mehr viel übrig. Dies war ja auch einer der Gründe, warum ich so regelmäßig meine Tafel Schokolade gewinnen konnte. Die Konkurrenz war nicht besonders groß, und so richtig ernstgenommen hat mich außer Triller wohl eigentlich niemand.
    Entsetzt erfahre ich dann, daß heute überall geraucht werden darf, Radios erlaubt sind und daß in den Dörfern der Umgebung die stillschweigend geduldeten Privatautos mancher älteren Schüler parken, mit denen sie übers Wochenende die Freundinnen durchs Land chauffieren. Wir mußten uns damals noch etwas einfallen lassen, um mal eine Nacht mit dem »Zahn« verbringen zu können, bei Strafe des fristlosen Rauswurfs. Zur Brunftzeit im Herbst war das einfach, da fragte ich meinen Kameradschaftsführer Triloff , ob ich nicht über Samstag/Sonntag in den Wald dürfe, zum » Hirsche-Röhren-Hören «. Der war natürlich begeistert von meiner Liebe zur Natur, und ich traf mich mit Dagmar, die sich die gleiche Ausgangsgenehmigung erschwindelt hatte, im Hexenhäuschen, einem Wildfutterschober auf halbem Wege nach Schießhaus, und ließ mich im duftenden Heu weiter gelehrig unterweisen in der Kunst des Zungenkusses.
    Für viele hier bin ich als Altschüler zwar einer der ihren, als abgerissener Wanderer aber nur ein Spinner, ein

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