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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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»ausgeflippter Brotbeuteltyp auf dem Weg zurück zur Natur«. Doch »spinnen« hat für Dorothee, eine vierzehnjährige Kaufmannstochter, in dieser »schlaffen Zeit« auch etwas Gutes. »Normalerweise kommen die Altschüler fettgefressen im Porsche oder Mercedes daher«, erzählt sie mir, »da bist du Fußgänger mal ne ganz schön starke Abwechslung .« So stark, daß sie mich sogar fragt, ob ich nicht Lust habe, mit ihr Araberhengste in Kanada zu züchten, sie beabsichtige nämlich, nach dem Abitur eine Ranch in den Rocky Mountains aufzubauen. Aber bis dahin sind noch fünf Jahre Zeit, und so lange kann ich mir das ja noch gut überlegen.
    Eines Abends bekomme ich ganz unerwartet späten Besuch. »Kann ich mal mit dir reden«, fragt mich ein hübscher Lockenkopf durch den Türspalt und tritt ein wenig verlegen ins Haus. Er ist ein achtzehnjähriger Junge, nennen wir ihn Rolf, den ich bisher nur vom Sehen kenne. Ich mache uns einen Tee, wir setzen uns in den Garten. Lächelnd erzählt er mir, daß ihm hier so ziemlich alles stinkt. Seit Jahren lebt er »auf Tauchstation«, unverstanden von den Lehrern, von den Schülern, und von den Eltern zu Hause »sowieso«. »Ich trage hier eine Maske«, sagt er, »formal funktioniere ich prima, die Versetzungen gehen immer glatt über die Bühne, aber im Grunde ist alles nur Rollenspiel, Theater .« Seit sieben Jahren spielt Rolf seinen Part. Wenn der Druck in ihm zu stark wird, nimmt er gelegentlich auch mal Dope, eine selbstgezüchtete Pilzmischung liegt »für alle Fälle« unter der Schulbank bereit. Mädchen interessieren ihn nicht, aber in den Ferien besucht er öfter einen älteren Freund, »mit dem hab ich ein gutes Verhältnis, der ist der einzige Mensch, mit dem ich klarkomme«. Rolf sagt selbst, daß er sich hier hauptsächlich mit seinem »eigenen Fall« beschäftigt, und in der Tat hat er das Soziologenvokabular für sein Außenseiterverhalten gut gelernt.
    Während Rolf erzählt, wandern meine Gedanken zu einem Mitschüler, mit dem ich damals, Anfang der sechziger Jahre, auf einem Flur lebte, ein netter, unauffälliger Kerl. Eines Tages, nach einer verpatzten Mathematikarbeit, blieb sein Platz am Frühstückstisch leer, und in der großen Pause fand ihn dann einer leblos in seinem Bett, das Schlaftablettenröhrchen auf dem Nachttisch. Wie konnte das nur geschehen, fragten wir uns damals, ohne daß irgend jemand etwas geahnt hat, in einer so engen Gemeinschaft wie dem LSFI, wo jeder jeden genau zu kennen glaubte. Und jetzt frage ich mich, was zum Beispiel geschieht, wenn Rolfs Beziehung zu seinem fernen Freund in eine Krise gerät? Klingt es nicht wie ein Hilferuf, wenn mich der Junge im Laufe des nächtlichen Gesprächs auffordert, doch »einfach so« hierzubleiben, als Lehrer oder Erzieher oder auch als Gärtner. »Herr Brüning ist ja bald pensioniert, da wird eine Stelle frei .«
    So absurd dieser Vorschlag klingt — nachdem Rolf gegangen ist, läßt mich die Vorstellung vom Gärtnersein im LSH lange nicht los. Ich sitze grübelnd auf der Terrasse in Zetes Blumengarten, vor mir die leergetrunkenen Teetassen, und frage mich allen Ernstes, ob es nicht wirklich sinnvoll wäre, jetzt hier in Holzminden meine Wanderung zu beenden, sinnvoller zumindest, als durch die Gegend zu laufen, auf der selbstverliebten Suche nach der eigenen Vergangenheit. Hier werde ich gebraucht, und wenn ich Rolf dabei helfen könnte, sich nach sieben Jahren aus der inneren Emigration zu befreien, hätte es sich gelohnt.
    Meine Gedanken erschrecken mich. Ich ein Gärtner? Noch in derselben Nacht packe ich meine Sachen.

II

    » Scheiß-spiel-Scheiß-spiel-Scheiß-spiel « — rhythmisch fluchend, stapfe ich wütend durch die Pfützen. Als Begleitmusik höre ich das heftige Regengeprassel unter meiner Kapuze wie mit Kopfhörern. Von den Knien abwärts klebt mir die Hose an den Beinen. Längst sind meine Schuhe vom Morast der Wege durchnäßt. Heftige Windböen schlagen mir das Regencape immer wieder um die Ohren. » Scheiß-spiel !«
    Warum bin ich bloß nicht im Landschulheim geblieben, dort, wo man mich braucht? Was soll die ganze Lauferei jetzt noch, nachdem ich mir meinen großen Sextanertraum endlich erfüllt habe? Was nun vor mir liegt, sind Erwachsenenpläne, ist nackter beruflicher Ehrgeiz: Du mußt weitergehen, weil dein Land, diese Bundesrepublik, im Weserbergland noch lange nicht aufhört, und weil ja auch dein Leben nach der Internatszeit weitergegangen ist, und zwar, laut

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