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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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herrliche Gefühl, dieser kindliche Triumph über die Erwachsenen weit, dieses Glück über den verbotenen Schatz in der Hosentasche.
    Der Weg hinauf zum Internat ist mir geläufig. In zehn Jahren bin ich diese Kilometer sicher gut tausendmal gegangen, ich kenne jede Ecke. In der scharfen Kurve hinter der Redaktion des lokalen Täglichen Anzeiger fasse ich an die Narbe meines rechten Oberschenkels, die ich mir genau hier bei einem Fahrradsturz zugezogen habe. Auch der penetrante Geruch, mit dem die Parfümfabrik ein Stück weiter bergauf ihre Umgebung peinigt, hat mit den Jahren nichts von seiner lähmenden Süße verloren, und selbst am Mäuerchen vor der Gaststätte »Der fröhliche Wanderer« sind für den, der sie sehen will, noch feine rote Farbreste sichtbar vom Slogan »Amis raus aus Vietnam«, den wir da in einer 68er-Nacht hingesprüht haben.
    Nach der Spurensicherung außerhalb des Internats betrete ich das Gelände des Landschulheims am Solling (LSH) mit feuchten Händen. »Privatbesitz — Durchgang verboten« signalisiert ein Schild die Exklusivität dieser Bildungsstätte, aber ich fühle mich nicht angesprochen, ich betrachte mich hier noch immer als zugehörig. Respektabel stehen die drei massigen Hauptgebäude, das Ober-, das Mittel- und das Unterhaus, in der gepflegten Parklandschaft. Menschen sind keine zu sehen, denn die Turmuhr zeigt Viertel vor neun, die zweite Schulstunde muß gerade begonnen haben. Neben der Sternwarte schlage ich mich in die Büsche, um mir nun endlich meine kurzen Hosen anzuziehen. Nur so wage ich Triller unter die Augen zu treten, denn der Erdkundelehrer Ernst-Günther Triloff war mein »Kameradschaftsführer«, so nannten sich unsere jugendbewegten Erzieher, und kurze Hosen galten ihnen als Sinnbild ihres Erziehungsprogramms. Wer im Frühjahr zuerst die Shorts anzog, der bekam ebenso eine Tafel Schokolade wie der, der sie im späten Herbst als letzter wieder auszog. Jahrelang habe ich mir beide Tafeln dadurch gesichert, daß ich ausschließlich in den Weihnachtsferien lange Hosen trug, und das auch nur meiner Mutter zuliebe. Da ich in der Schule selten versetzt wurde, waren diese Schokoladenprämien lange Zeit meine einzigen Erfolgserlebnisse.
    Kurzbehost klopfe ich also an die Tür des Lehrers. Triloff öffnet, stutzt, traut seinen Augen nicht. »Herr Doktor«, sage ich stolz, »ich bin gekommen, um mir meine Tafel Schokolade abzuholen .« Der alte Wandervogel strahlt. Ich war sein schlechtester Lieblingsschüler und bin ihm treu geblieben. Doch Schokolade hat er leider keine im Haus. Er entschuldigt das mit seiner Pensionierung, schließlich ist er schon über siebzig, die Schüler kennen ihn kaum noch, und kurze Hosen sind inzwischen selbst bei größter Hitze kaum noch zu sehen. Bei einem Glas Apfelsaft höre ich staunend von meinem Lehrer, daß ich schon als Dreizehnjähriger von Holzminden nach Hamburg laufen wollte, und zwar barfuß. Langsam kehrt die Erinnerung zurück: Nachdem ich das dritte Mal sitzengeblieben war, wollte ich der ganzen Schule zeigen, wozu ich fähig war, was in mir steckte. Vokabeln konnte ich mir nicht merken, was Adverbialkontributionen sind, blieb mir bis heute ein Rätsel, aber die Fähigkeit, trotzdem Einmaliges zu vollbringen, die wollte ich allen beweisen. Es blieb bei einer großmäuligen Idee, kein Mensch nahm mich damals für voll.
    Und nun, nach zwei Jahrzehnten, komme ich zwar in Schuhen, aber doch zu Fuß aus Hamburg, um mir als erwachsener Mann die Bestätigung abzuholen, die ich als Kind so nötig gebraucht hätte. Hier vor meinem alten Lehrer bin ich wieder der kleine Quintaner, mit den gleichen Ängsten, den gleichen Selbstzweifeln, da hilft kein Abitur, kein Studium und auch kein angesehener Redakteursposten mit Telefon und Sekretärin, die mir die Rechtschreibfehler aus den Manuskripten sucht. Sind diese Kindheitswunden wirklich der Grund, warum ich durchs Land laufen und in kurzen Hosen hier erscheinen muß? Die Frage ist mir zu peinlich, als daß ich sie Herrn Triloff stellen kann.
    Einige Tage lebe ich hier in meiner Vergangenheit. Der Heimleiter Helmut Brückner, einst mein geduldiger Geschichtslehrer, war allerdings im ersten Augenblick recht entsetzt, als er mich bärtigen Vaganten da mit Hund über den Unterhausplatz laufen sah. »Entschuldigen Sie mal, mein Herr«, rief er scharf aus dem Fenster des Konferenzzimmers und blickte dabei mit denselben strengen Augen, mit denen er mich mal beim Onanieren erwischt hatte.

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