Deutschland umsonst
wo ihr Dorf liegen muß, wie Evelyn sich vom Mittagsschlaf erhebt, wie sie leise, auf Zehenspitzen das elterliche Schlafzimmer verläßt, ohne die Mutter zu wecken, wie sie über knarrende Dielen in ihren Krämerladen schleicht, um dort ein für allemal aufzuräumen: Milchtüten zerplatzen dumpf in der Kaffeeabteilung, Ketchup kleckert die Wände hinab, über den Fußboden kollern Senfgurken und Buletten, Büchsenberge sacken, von jugoslawischen Rotweinflaschen getroffen, kraftlos in sich zusammen, und als die Ananasdose für 1,95 DM durch die Schaufensterscheibe mit den aufgeklebten Sonderangeboten fliegt, schlägt auch schon die Sirene über dem Geräteschuppen der Feuerwehr Katastrophenalarm. Mutter Meierholz schreckt aus ihrer Mittagsruhe, vor dem Laden laufen die Leute zusammen, in den Fenstern recken sich die Hälse der Nachbarn, Evelyn aber sitzt hinter ihrer Kasse und sagt ganz entspannt zur hereinstürzenden Mutter: »Mama, das Geschäft ging heute wie noch nie.«
Bodenwerder, Polle, Eschershausen, Bevern , Reileifzen , Negenborn — Namen auf Wegweisern am Straßenrand wecken Gefühle der Vertrautheit. Es sind altbekannte, halbvergessene Ortsnamen aus der unmittelbaren Umgebung von Holzminden. Hoffnungen machen mir Beine. Über den Ith, die letzte Gebirgsbarriere zwischen mir und dem Weserbergland, geht es wie nix. Feldmann, obwohl noch etwas schwach auf den Beinen, hält mein Tempo tapfer mit. Wir eilen durch einen mächtigen Buchenwald. Es geht steil bergab. Altes Laub raschelt unter den Füßen. Dann, endlich, gibt eine Lichtung den Blick frei: vor uns knallgelbe Rapsfelder, die sich, wie nirgends sonst, an die weichen Schwingungen der Hänge schmiegen. Heimisches Land! Ich könnte jubeln! Mir ist, als sei ich der Erfüllung einer unbestimmten Sehnsucht ganz nah. Von der Weser ist noch nichts zu sehen, aber ich weiß, da hinten, zwischen den hochgeschossenen Wiesen, da muß sie sein, da zieht sie ihre Bahn.
Leichtfüßig galoppiere ich über rostrosa Buntsandsteinsplitter aus dem Wald heraus und singe: » It’s gonna be all right, all right, all right, all right .« Bis das Lied mich heiser gemacht hat, bin ich endlich am Ufer des Flusses. Ich habe mir fest vorgenommen zu baden, wie damals, als wir zum Beweis unserer Männlichkeit vor den Lastkähnen die Weser durchquerten — wer so riskant nahe an die Schiffe herankam, daß sie ihre Warnhörner bliesen, der war der Mutigste und hatte gewonnen. Doch heute stecke ich nicht mal den Zeh ins Wasser, so dreckig ist es. Seine Ruhe aber hat der Fluß trotz der Verschmutzung nicht verloren. Gelassen führt er sein trübes Wasser durchs Land.
Durch nasse Wiesen folge ich den Weserwindungen stromaufwärts, und zwei Tage lang gehe ich dem Wasserlauf nicht mehr von der Seite, halte mich an ihm fest, denn so kann ich Holzminden nicht verfehlen, Holzminden an der Weser. In Heidbrink , gegenüber von Polle, sehe ich zu, wie die Fähre ein paar Autos übersetzt. Genau wie früher stellt sie sich schräg in den Strom und läßt sich von der Kraft des Wassers zum anderen Ufer treiben. Als Kind hatte das immer etwas Geheimnisvolles, wenn der Fährmann bloß an einem Seil ziehen mußte, und schon setzte sich das Boot, wie von Geisterhand, leise in Bewegung. Nur das Gurgeln der kleinen Strudel am Heck war zu hören und das zeternde Quietschen der Rollen, mit denen die Fähre oben am quer über den Fluß gespannten Drahtseil hängt. Im Moment der Erinnerung sind die Geräusche wieder da, nur der alte Fährmann, schon vor zwanzig Jahren ein Greis, in dessen Gesicht sich viel Schauriges hineingeheimnissen ließ, ist nicht mehr an Bord. Statt seiner steht da ein glatter Mittfünfziger, der mir im Finanzamt nicht weiter aufgefallen wäre. Wie hätte ich ihn wohl als Zwölfjähriger gesehen, damals, als mein Leben noch voll war von Spuk und Geisterei ? Hätte ich mir bei diesem harmlos aussehenden Mann wohl auch Gedanken darüber gemacht, was er nach Einbruch der Dunkelheit tun mag, wenn das Wasser sich schwarz färbt und die Flußgeister ans Ufer kriechen, um vom Fährmann ihren Tribut zu fordern? Und wehe ihm, er verweigerte den nassen Gestalten auch nur ein einziges Mal seine liebliche Tochter, es wäre sein Untergang gewesen. Heute weiß ich: Er wird wahrscheinlich nach BAT bezahlt, hat um sieben Uhr Dienstschluß und träumt davon, einmal in seinem Leben in Robert Lembkes »Heiterem Beruferaten « aufzutreten: Lembke: Guten Tag, Herr Weber, bitte nehmen Sie Platz,
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