Deutschland umsonst
Suizidversuche, Schnapsdiebstähle, Rezeptfälschungen und Prostitution, als sei’s das Normalste von der Welt, was es in der Welt dieser Klinik anscheinend auch ist.
Hier werden nun Alkohol und Tabletten ersetzt durch Abhängigkeiten anderer Art: Kaffeegier, Kettenrauchen, Konsumfieber, Freßsucht, Jieper nach Sprudel, nach Gewürzen, nach allem, was süß schmeckt. Eine Frau legt sich abends fünf Tafeln Schokolade auf den Nachttisch, und am Morgen sind sie verschwunden, »im Halbschlaf weggeputzt, wie in einem süßen Traum«. Eine andere muß sich nach Tisch zwei halbe Hähnchen aus der Imbißstube holen, obwohl sie eigentlich keinen Bissen mehr herunterbekommt.
Mein unersättlicher Appetit und auch Feldmanns Freßwut begeistern meine Zuschauerinnen, für Maßlosigkeit haben sie größtes Verständnis. Im Anschluß an die reichliche Mahlzeit laden mich vier Damen zu einem Eiskaffee in das »Sozialzentrum« ein, die andern hüten den Hund. In einem niedrigen Pavillon löffeln wir unsere doppelten Portionen, und meine Begleiterinnen stellen mich stolz der Bedienung vor: »Das ist Michael, unser neuer Pfleger, der ist uns grade zugelaufen .« Schallendes Gelächter. Es herrscht eine ganz unerwartet entspannte Atmosphäre. Etwa fünfzig Patienten sitzen in Gruppen oder auch einzeln an den Tischen, man plaudert, man lacht, und wüßte ich nicht, wo ich bin, ich könnte meinen, ich säße in meinem Stammcafe » Lindtner « in Hamburg-Eppendorf.
Der Vergleich erschreckt mich selbst. Pausenlos liest man von den katastrophalen Zuständen in psychiatrischen Anstalten, und nun bin ich mittendrin und fühle mich sauwohl. Dabei vermute ich, daß auch hier, irgendwo hinter den sauberen Fassaden, in Gummizellen gesperrt, in Zwangsjacken gesteckt wird, daß Psychopharmaka und Elektroschocks an der Tagesordnung sind. Daß ich die Atmosphäre trotzdem so gedankenlos genießen kann, mag eine Menge mit mir zu tun haben, mit meiner geistigen Verfassung nach über sechs Wochen auf der Straße. Da genügt schon der Geruch von Kaffee, um mich in Hochstimmung zu versetzen. Natürlich übersehe ich nicht die traurigen Existenzen hier, den Einsamen hinten im Eck, der nur immer gegen die Decke starrt, als fürchte er, sie käme ihm jeden Moment entgegen; oder die beiden Greise, die vor lauter Tattrigkeit ihre Kaffeetasse kaum noch zum Mund führen können. Aber solche Leute gibt’s beim » Lindtner « auch. Was es dort nicht gibt, wer dort sofort von einem der beiden chronisch mißgelaunten Kellner an die Luft gesetzt würde, ist dieses nicht mehr ganz junge Paar uns gegenüber. Die beiden müssen frisch verliebt sein, während sie sich angeregt unterhalten, streichelt er ihr ganz zart, aber ohne jede Scheu, über den Busen. Als der Mann seine Freundin nach langem Streicheln auf die Wange küßt, holt sie dankbar eine Flasche 4711 aus ihrer Handtasche und tröpfelt es ihm aufs schüttere Haar. Kein Mensch wundert sich darüber, nur ich verschlucke mich fast vor Staunen. Wer ist hier der Kranke, wer sind die Gesunden? Hier könnte ich, ohne weiter aufzufallen, auf den Tisch steigen und »La Paloma« auf vier Fingern pfeifen oder einer meiner vier Begleiterinnen eine Kugel Erdbeereis in den Ausschnitt stopfen, aber so verrückt bin ich leider nicht, ich bin hier nur Zaungast.
Immerhin, zu der Frage, ob es in der Klinik nicht irgendwo einen trockenen Schlafplatz für mich gibt, ringe ich mich am Ende durch. Die Frauen am Tisch sind von meinem verrückten Ansinnen geradezu entzückt. Selbstverständlich läßt sich da etwas machen, meinen sie, die Rosemarie ist ja gerade entlassen worden, Zimmer 12 steht leer. Das einzige Problem ist die Nachtschwester, aber mit der wird man schon fertig werden. »Komm gleich wieder mit und laß uns nur machen, wir schaukeln das schon hin .« Im Haus 36 schlagen zwanzig Mutterherzen höher. »Endlich passiert mal was«, schwärmen die Frauen, und fast gibt es Streit, weil jede mein Bett beziehen will.
Um Punkt halb neun betritt die Nachtschwester Gertrude, eine große, blonde Person, mein Zimmer. Ich liege schon im Bett, die Decke wie ein Schwerkranker bis zum Kinn hochgezogen. Der Rucksack steht halb verdeckt unterm Waschbecken, davor macht Feldmann Schnecke. Eben habe ich mich nebenan geduscht, die Zähne sind geputzt, sauber wie ein Bräutigam fühle ich durch jede Pore das frische Bettzeug. »Alles in Ordnung ?« fragt mich die Schwester mit einem Lächeln. Wir sehen uns an, und beide wissen wir,
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