Deutschland umsonst
Weiterkommen unmöglich erscheint, zumal jetzt, da der Regen immer kürzere Pausen einlegt, zumal hier, an der Grenze des Ruhrgebiets, das nördlich des Ruhrtals beginnen müßte, ja eigentlich schon beginnt, denn das Ufer ist kilometerweit mit Stacheldraht eingezäunt. »Wasserschutzgebiet — Betreten verboten .« Ein wogendes Haferfeld vermittelt den lang ansteigenden Hang hinauf noch einmal die Illusion ländlichen Friedens; dann wieder Stacheldraht, der das Gelände einer amerikanischen Raketenabschußbasis sichert, zwei kohlschwarze! US-Soldaten gehen dahinter Patrouille; dann auf einmal ein Stück Wiese, die Kühe darauf glotzen so verloren in die Gegend, als hätten sie hier eigentlich gar nichts mehr zu suchen; dann eine Autobahn und, wieder vor weidenden Kühen, das Stadtschild von Dortmund. Es ist, als könne sich die Landschaft noch nicht recht entscheiden. Grün und Grau wechseln unaufhörlich, Fabrikgelände drängen sich ins hohe Getreide, hinter verrußten Zechenhäusern blöken Schafe, wilde Brombeerbüsche umrahmen stinkende Mülldeponien, am Horizont werden hohe Pappeln von Fabrikschloten überragt.
Ein Schild an einer Garage verweist mich auf die Emscherquelle . Daß die Emscher, der dreckigste Fluß Deutschlands, eine Quelle haben soll, ist eigentlich naheliegend, denn irgendwo entspringt schließlich jeder Fluß. Doch allzuoft während meiner Studentenzeit habe ich sie sich als stinkenden Abwasserkanal durch Rauxel, Herne oder Gelsenkirchen quälen sehen, um glauben zu können, daß diese Brühe einmal quellreines Wasser war.
Ein paar Hundert Meter weiter ist das Wunder wahr: vor einem stattlichen Fachwerkhaus ein kristallklarer See, auf dem sich perlweiße Gänse tummeln. Am Ufer prächtige alte Kastanien, Ulmen, Eschen. Ländlicher Frieden, wie man ihn selbst im Sauerland suchen müßte. Und das soll nun der Emscher Anfang sein! Die Besitzerin des Grundstücks, die hier einen Ponyhof betreibt, bestätigt: » Jawoll , dat isse , die kommt direkt unterm Haus längs und geht gleich in nen See rein .« Von dem Genuß des Wassers rät sie mir allerdings ab, auch sie denkt beim Namen Emscherquelle wohl ein bißchen weiter, aber die Fische gedeihen hier »astrein«, die Enten ißt sie jede Weihnachten, »und Se sehen ja, ich leb nicht schlecht.«
Wie aber wird die Quelle zur Emscher? Erst plätschert der Bach unschuldig zwischen Hecken und Sträuchern am Rande eines Feldes entlang. Das Wasser ist klar, einige Steine des Bachbetts sind von grünen Algen leicht verfärbt, ein Rinnsal im Allgäu kann nicht sauberer sein. Doch dann, hinter einem dichten Gestrüpp, ein großes schwarzes Loch, und die Emscher ist verschwunden, in einem Kanalisationsrohr unter die Erde getaucht, einfach weg. Feldmann steckt seinen Kopf in das etwa einen halben Meter hohe Rohr, traut sich aber nicht ins Dunkel. Eine Straße und mehrere kleine Gärten weiter spuckt ein ähnliches Loch das Bächlein wieder aus. Zwei Kinder inszenieren ein Spiel, das sie »Totenreich« nennen, mir aber nicht weiter erklären, weil sie mit den Großen nichts zu tun haben wollen. Meinen Hund dagegen finden sie ganz nett, er ist ja ungefähr in ihrem Alter, und so sehe ich eine Weile zu, wie er ihnen Hölzer aller Größen für den Dammbau heranholt. » Ene , bene, dittje , dattje/zippel , ribbel , bonekatje «, beschwören die beiden in rhythmischem Sprechgesang die Geister der Toten da drin im dunklen Rohr. Nachdem sie das Wasser hoch genug aufgestaut haben, gehen die Jungen über die Straße zum anderen Rohrende und schicken kleine Papierkugeln auf die Reise durch den Hades. Von fünf » Totenbällchen « kommt nur eines durch, die andern »hat der Geist gefressen«, sagen sie und reiben sich aufgeregt die Hände.
Ich folge dem » Totenbällchen « ein Stück Wegs, bis es sich hinter der nächsten Windung aufgelöst hat und von der Strömung in viele Stücke zerrissen wird. Jetzt hat die Emscher ihre Unschuld verloren, denke ich, es fängt ja oft ganz harmlos an. Bis zu den nächsten Papierfetzen ist es nicht weit, dann kommt die erste Zigarettenschachtel, die erste Coca-Büchse, ein Nylonstrumpf ist an einem Ast hängengeblieben und windet sich wie eine Schlange. Die Besiedlung am Ufer nimmt zu. Aus der Böschung ragen kleine Tonröhren, aus denen es unheilverkündend herauströpfelt, zunehmend verlieren die Algen an Farbe, zunehmend wird das Wasser trübe: das Totenreich — schon wenige hundert Meter von der Quelle entfernt kündigt es
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