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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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daß so ziemlich alles in Unordnung ist, was in einem Krankenhaus in Unordnung sein kann: ein Gesunder im Krankenbett, ein Mann auf der Frauenstation, dazu noch mit Hund — wenn das der Stationsleiter erfährt. Jetzt muß die Blonde nur noch unter meine Bettdecke kriechen, und die Lokalsensation ist perfekt. »SKANDAL !« würden schon übermorgen die Zeitungen schreiben, »PENNER SCHLÄFT MIT HUND UND KRANKENSCHWESTER BEI ZWANZIG FRAUEN IM IRRENHAUS.« Die Opposition im Stadtrat würde die Gelegenheit sicher gleich zu einer kleinen Anfrage nutzen:
    Abgeordneter X (CDU): Wie stellt sich die Stadtverwaltung zu den unglaublichen Vorgängen im Landeskrankenhaus?
    Ministerialrat Y (SPD): Herr Abgeordneter — auch wir sind von den in der Presse verbreiteten Meldungen überrascht worden. Die Sachlage wird noch überprüft, vorher können wir keine endgültige Stellungnahme dazu abgeben. (Unruhe bei der CDU-Fraktion)
    Der Ratspräsident: Ich bitte um Ruhe. Zusatzfrage des Abgeordneten X.
    Abgeordneter X: Welche konkreten Schritte beabsichtigt die Stadt zu unternehmen, damit sich ähnliches in Zukunft nicht wiederholt?
    Ministerialrat Y: Herr Abgeordneter, wie schon gesagt, wir prüfen noch. (Erneute Unruhe bei der CDU-Fraktion) Aber meine Herren... (Zwischenrufe aus der CDU-Fraktion) bitte beruhigen Sie sich doch. Sollten sich die Meldungen als korrekt erweisen, werden wir sofort einen Untersuchungsausschuß einsetzen und den Dingen bis ins einzelne nachgehen. (Beifall bei der SPD-Fraktion).
    Das Gefühl, hier für einen Skandal zu sorgen, hier selber Nachrichtenstoff zu produzieren, ist dabei für mich als ehemaligen Journalisten besonders reizvoll. Fast bin ich ein wenig enttäuscht, daß diese Nacht völlig harmlos und bei aller Außergewöhnlichkeit unerwartet normal vorübergeht. Keine kollektive Vergewaltigung durch die zwanzig Patientinnen, die zu mitternächtlicher Stunde in mein Zimmer eindringen, nicht einmal zufällig irrt sich eine auf dem Gang zur Toilette in der Tür und sagt: »Ach, ich bitte vielmals um Verzeihung«, nein, rein gar nichts geschieht. Es ist eine ruhige Nacht, fast wie in einem Hotel, und draußen tröpfelt Regen leise auf die Dachziegel vor dem Mansardenfenster, eine schöne Musik, wenn man in einem Bett liegt.
    Gemeinsames Frühstück um sieben im Aufenthaltsraum der Station. Das Ei viereinhalb Minuten, die Brötchen frisch, der Kaffee heiß. »Gut geschlafen?« »Danke, bestens !« Ich fühle mich wie ein Scheich in seinem Harem. Und dann die große Überraschung: Um halb neun, eine halbe Stunde früher als gewöhnlich, betritt der Stationsleiter Haus 36, und ich traue meinen Augen nicht. Er braucht sich nicht vorzustellen, ich erkenne ihn sofort: Es ist Hans-Jörg Lütgerhorst . Fünf Jahre haben wir zusammen an der Ruhr-Universität studiert, er Psychologie, ich Sozialwissenschaften, aber gemeinsam waren wir in Ellen, die Anglistin, unglücklich verliebt, was uns in rivalisierende Nähe gebracht hat. Wenn sein Auto vor ihrem Haus parkte, durfte ich nicht hinein, und wenn meines dastand, war ihm der Zutritt verwehrt. Wir hielten uns eisern an diese Regel und kamen gut miteinander aus. Was mich an Hans-Jörg damals besonders beeindruckte, war sein dichter Vollbart, seine innere Ruhe — beides hatte in meinen Augen viel miteinander zu tun — und vor allem sein proletarisches Elternhaus. Er war das erste Arbeiterkind, das ich näher kennenlernte. Wenn mein Vater in den studentenbewegten Diskussionen Ende der sechziger Jahre zu Hause die Meinung vertrat: »Arbeiter sind nun mal am besten Arbeiter«, dann war mein studierender Freund immer das schlagendste Gegenargument.
    Dieser Hans-Jörg steht nun vor mir, und es dauert eine Weile, bis wir nach einem fast gleichzeitigen » Was-machst-du-denn-hier ?« unsere Sprache wiederfinden. Ich habe einerseits ein schlechtes Gewissen, illegal in seinen Verantwortungsbereich eingedrungen zu sein, und bin andererseits schrecklich stolz darauf, bei »seinen Patientinnen« genächtigt zu haben, sein Wagen stand ja nicht vor der Tür.
    Auch bei Hans-Jörg muß einiges durcheinandergehen. Er ist zunächst einmal der Stationsleiter hier, und seine Patienten, die schuldbewußt ganz still geworden sind, erwarten jetzt, daß sich der Chef auch wie ein Chef benimmt. Ich dagegen würde am liebsten von ihm freudig in den Arm genommen werden nach all den Jahren, schließlich haben wir einst nicht nur um ein Mädchen, sondern auch gegen die Fahrpreiserhöhung, das

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