Deutschland umsonst
sich an.
In Dortmund-Aplerbeck verschwindet die Emscher wieder. Direkt vor dem Rathaus taucht sie unter einer belebten Kreuzung weg, und ich suche sie vergebens. »Die Emscher«, geben drei Rocker in voller Ledermontur breitgrinsend Auskunft, »die gibt’s hier nicht, die gibt’s nur drüben in Castrop .« Daß ich bis vor fünf Minuten noch an ihr entlanggelaufen bin, ja, daß wir möglicherweise gerade über ihr stehen, weil sie ja hier irgendwo unter der Erde weiterfließen muß, quittieren die drei nur mit einem schulterzuckendem » Na-wenn-schon «.
Im Grunde haben sie ja recht, wo die Emscher nun steckt, ist auch für mich im Moment gar nicht mehr so wichtig. Die Rathausuhr geht auf halb fünf, und seit den vielen Bimberg-Schnäpsen habe ich heute nichts mehr in den Magen bekommen. Im Bahnhof Aplerbeck gibt es leider keine Mission, die befindet sich auf dem Hauptbahnhof in der Innenstadt, fast zehn Kilometer von hier. Sozialamt, Bäckereien und Schlachter haben geschlossen, heute ist Sonntag, da läuft also nichts. Verloren irre ich durch die Straßen. Wäre ich jetzt auf dem Land, ich fände schon irgendwo einen Bauern, bei dem ich die Füße unter den Küchentisch stecken könnte. Hier aber, in der steinernen Anonymität der Stadt, traue ich mich nicht, auf die Menschen zuzugehen, es sind einfach viel zuviele . Alle haben es eilig, kaum einer schenkt mir Beachtung. Nur die Rentner, die in den offenen Fenstern, auf kleine Kissen gestützt, ihren Lebensabend vertun, scheinen Zeit zu haben. Einen frage ich, wie spät es ist. »Gleich fünf«, sagt er knapp, ohne die Hand vom Kinn zu nehmen. Mehr ist nicht von ihm zu erfahren. Um zehn nach fünf stehe ich vor einem großen Gebäudekomplex, dem Landeskrankenhaus, einer psychiatrischen Anstalt, die Aplerbeck im ganzen Ruhrgebiet bekannt gemacht hat. »Ab nach Aplerbeck «, rufen die Kinder, wenn sie jemanden für verrückt erklären, »ab inne Klapsmühle .«
Ich zögere nicht lange. »N Abend«, grüße ich im Vorbeigehen den Pförtner. Der guckt nur kurz von seiner Zeitung hoch und wundert sich nicht einmal über uns zwei. Ein Weißkittel zeigt mir den Weg zur Küche, auch er scheint keinen Verdacht zu schöpfen. Hinter der Neurologie begegnen mir ein Dutzend Damen im besten Alter, und alle stürzen sich auf Feldmann. »Ja, wie heißt du denn ?« wird er gefragt, »und was hast du für schöne traurige Augen, bist wohl hungrig vom vielen Laufen?« »Ist er«, bestätige ich, »deshalb wollen wir auch zur Küche .« »Die ist sonntags geschlossen«, höre ich von den Frauen, »am besten, ihr kommt mal gleich mit .« Schlag sechs sitzen ich und Feldmann im Gemeinschaftsraum von Haus Nr. 36, Abteilung für suchtabhängige Frauen, und lassen uns aufgewärmte Nudeln mit Hack schmecken. Die Zahl unserer Betreuerinnen ist auf über zwanzig gewachsen, alles eher biedere Bürgersfrauen in bester Stimmung, die so gar nicht in mein Bild von Suchtkranken passen. Es herrscht eine Atmosphäre wie bei einem Betriebsausflug. Mir fällt es schwer zu glauben, daß ich hier in einem Krankenhaus bin. Ärzte und Schwestern sind nirgendwo zu sehen, der Stationsleiter hat heute frei, aber auch werktags soll es nicht allzu streng zugehen auf der Station. »Wir versorgen uns selbst«, sagt eine der Frauen, »wir können auch nach draußen zum Einkaufen, und mittwochs kommen unsere Männer .«
Warum die Frauen hier sind, brauche ich gar nicht zu fragen, denn freimütig schildern sie mir, eine nach der andern, ihre »Krankheitsgeschichte«: wie sie während der Wechseljahre ihre alte Vitalität verloren haben und sich langsam an das vom Hausarzt verordnete Captagon gewöhnten, bis es dreißig Tabletten am Tag waren und die Überaktivitäten durch Putzen, Tapezieren und zwanghaftes Kochen abgebaut wurden, wie man die gute Hausfrau zu mimen verstand, jahrelang den Ehemann liebte, die Kinder versorgte, die Wäsche wusch und tagsüber, wenn alle endlich aus dem Haus waren, das Trinken anfing, weil sich alles immerzu wiederholte, weil man den täglichen Trott vom Saubermachen, Spülen, Bettenmachen, jahraus, jahrein, nicht mehr aushielt, wie man lernte, die Flasche gut zu verstecken, und fast wahnsinnig wurde, wenn man sie selber nicht wiederfand, bis die lieben Angehörigen dann, mißtrauisch geworden, alle Schlupfwinkel kannten, bis auf den einen, den letzten, den besten: den Tank der Scheibenwaschanlage im Zweitwagen.
So plaudern sie, während ich es mir schmecken lasse, über
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