Deutschland umsonst
ich auf dem orangegelben Ortsschild oben auf einer Brücke, mit der eine Straße über mich und die Emscher hinweggeführt wird — nach zwei Tagen Flußlauf also immer noch in Dortmund. Mühsam schlängelt sich der tote Fluß durch die Außenbezirke der Stadt, und entsprechend beschwerlich ist
mein Vorankommen. Dauernd behindern mich Stacheldrahtzäune, Wehrmauern, finstere Tunnels, rutschige Uferwege; wenn das so weitergeht, brauche ich noch Wochen bis Bochum. Und wo soll ich bloß schlafen an diesem stinkenden Styx, hier gibt es nicht mal einen Fährmann, in dessen Kahn ich vielleicht unterschlupfen könnte.
» Dat jibbet ja nich «, höre ich auf einmal jemanden sagen, » dat Se hia anna Ämscha längskomm , da müssn wia ain drauf trienkn .« Ein Schrebergärtner bittet mich über den Zaun. Nach der zweiten Flasche Bier duzen wir uns, nach der vierten bietet mir Horst sein kleines » Gartenhäusken , main ain und allet «, als Schlafquartier an. Stolz führt mich der Elektroschweißer durch sein » Raich «. Zwischen Emscher-Zaun und mannshohen Gichtgasröhren der Hoesch-Werke züchtet er Geranien, Rosen und Tomaten. Jede einzelne Pflanze wird von feinmaschigem Draht gegen die Kaninchen gesichert, denn selbst mit seinem Kleinkalibergewehr wird er der Schädlinge nicht Herr. Bevor Horst »auf Spätschicht« geht, verfaßt er sicherheitshalber eine schriftliche Übernachtungsgenehmigung für mich: »Horst Schneider gestattet Herrn Holzach , hier zu schlafen«, schreibt er auf einen Bierdeckel und darunter seine Telefonnummer. »Muß dich nicht störn , wenns heute nacht bisken lebhaft wierd voan anne Röhrn , dat sind die flaißigen Mädchens mit ihre Freia, hier wierd nämlich viel jevögelt , wails so absaitich liecht .« Und da der Straßenstrich öfter mal von der Polizei kontrolliert wird, wäre es gut, wenn ich was Schriftliches in der Hand hätte. Den Schlüssel soll ich morgen früh unter die Türritze schieben, bittet Horst mich noch und verschwindet mit seinem Kadett. Erstaunlich, denke ich und schaue ihm nach, wie kann dieser Mensch einem Dahergelaufenen wie mir sein » ain und allet « anvertrauen mit Hausschlüssel und einer noch halbvollen Kiste Bier?
Im Gartenhäuschen ist es urgemütlich. Ein altes Sofa, darüber röhrende Hirsche in Öl, ein kleiner Gasofen, eine Kuckucksuhr und viele alte Bierkrüge auf dem Wandregal. Da das Sofa zu kurz ist, mache ich es mir auf dem Holzfußboden im Schlafsack bequem und erwarte eine ruhige, erholsame Nacht an der Emscher — aber die Nacht, sie soll furchtbar werden: Kaum bin ich eingeschlafen, weckt mich ein Grollen in der Magengrube. Erst denke ich, es ist wieder der Hunger, der sich da knurrend meldet, aber schon bald treibt es mich hoch, hinaus in den Schrebergarten, wo ich noch gerade rechtzeitig die Hose herunter bekomme. Kaum habe ich in die Wärme meines Schlafsacks zurückgefunden, setzt das Magenbeben von neuem ein, wieder muß ich unter stechenden Schmerzen ganz dringend hinaus, so dringend, daß die armen Pflanzen jetzt wohl meinen, die Emscher sei über ihre Ufer getreten.
Ich weiß nicht, wie oft sich in dieser Leidensnacht das Drama wiederholt, aber als der Morgen endlich graut, ist das letzte Blatt von Horsts Klopapierrolle verbraucht, und ich fühle mich, als hätte ich alle meine Innereien ausgeschieden.
Entkräftet mühe ich mich den Unterweltsfluß entlang. Immer wieder zwingt mich der Dauerdurchfall in die Knie, immer wieder stellt Feldmann seinen Kopf schief, als wollte er mich fragen, was bloß los ist mit mir. Ich weiß es selber nicht. Sollten die lieben Patientinnen in Aplerbeck mich vergiftet haben, war irgendein erbetteltes Brot vielleicht doch verdorben, oder bin ich durch die Giftschwaden der Emscher schon verseucht? Sicher ist nur eins: Ich bin sterbenskrank und muß ins Bett! Wär ich doch in Aplerbeck geblieben, denn nun habe ich wirklich Anspruch auf ein Krankenzimmer.
Mehr tot als lebendig erreiche ich schließlich Dortmund-Mengede , eine kleine Gemeinde zwischen Werkhallen und Wiesen, zwischen Stadt und Land. Auf der Brücke steht, Arm in Arm, ein junges Paar unterm Regenschirm und spuckt in den Fluß. Er heißt Giesbert , sie Monika. Vom Jugendclub »Hot« (Haus der offenen Tür) telefonieren sie mit dem Vikar Gödecke : »Wir haben da grade einen kranken Wanderer aus der Emscher gefischt, der braucht ein Bett .«
Der Vikar läßt bitten. Ein blasser, dunkelhaariger Mann öffnet mir die Tür des Gemeindehauses. Ohne
Weitere Kostenlose Bücher