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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Sekretärin, hielt große Reden vor dem Studentenparlament, fuhr zu Konferenzen, gab die Bochumer Studentenzeitung mit heraus, ich organisierte Demonstrationen, malte Transparente, schrieb Flugblätter, spürte Gummiknüppel, wurde festgenommen, wegen »Widerstandes gegen die Staatsgewalt« angeklagt und freigesprochen. Von morgens bis spät in die Nacht war ich aktiv, fühlte mich wichtig mit meinem Namensschild an der Bürotür, fühlte mich sicher in meiner politischen Gruppe und dachte nur noch beiläufig an Mädchen und ans Studium.
    Aber von den alten Genossen ist hier im Studentenheim längst keiner mehr zu finden, und statt der politischen Parolen hängen die Sonderangebote vom Großmarkt am Schwarzen Brett. Mir wird klar, daß die Uni mich nichts mehr angeht. Der südländischen Reinemachefrau, die mir beim Hinausgehen mit ihrem Putzwagen begegnet, nicke ich freundlich zu. Ist das die Türkin von damals? Egal.

III

    Baukau , Wanne, Bismarck, Schalke, Hessler , Altenessen, Ebel — alles Namen, die mir etwas sagen. Als Zeitungsvolontär war ich oft in dieser Gegend unterwegs, um alte Leute zu interviewen für die Rubrik »Wir gratulieren«. Dieser »Job« war in der Redaktion so unbeliebt wie das Schreiben des Wetterberichts oder des Veranstaltungskalenders, ich aber tat es gern, denn die Jubilare hatten mir viel zu berichten. »Erzählen Sie mir mal von früher«, bat ich sie, wie der Enkel seine Großeltern, und dann erzählte mir zum Beispiel der damals 90jährige Franz Wachowiak aus Castrop von seiner polnisch-pommerschen Heimat, aus der er als Neunzehnjähriger am Ende des letzten Jahrhunderts in den Pütt gewandert war, um wie Zehntausende seiner Landsleute unter Tage zu arbeiten. Auch in Westfalen hat Wachowiak sein »Polenblut«, wie er es nannte, nie verleugnet. Er gründete den Gesangverein » Harmonia «, wo nur polnische Lieder gesungen wurden, und rettete die Noten im Kaninchenstall über die Nazizeit. Und unbeirrt hielt er der Madonna von Tschenstochau die Treue, und wenn ihn etwas mit der neuen Heimat verband, dann waren es die Fußballhelden Szymaniak, Tibulski und Cszepan , die damals für »Schalke 04« die Tore schossen. Das spannende Leben des Pommern, den mittlerweile sicher schon westfälischer Rasen bedeckt, hatte ich dann in der Westfälischen Rundschau mit einem »Dreizeiler abzufeiern«, und was dabei herauskam, las sich ungefähr so: »Franz Wachowiak begeht heute sein 90. Wiegenfest. Wir wünschen unserem treuen Leser und altverdienten Bergmann weiterhin einen schönen Lebensabend .« Nach meinem Volontariat mußte ich die Rundschau verlassen — zu meinem Glück, denn nun war ich arbeitslos und hatte Zeit, mich monatelang mit Franz Wachowiak und den Polen im Pütt zu beschäftigen, jenen Gastarbeitern der wilhelminischen Zeit, die das Ruhrgebiet zu dem gemacht haben, was es einmal war, und deren Kinder und Enkel heute von den eingefleischtesten Westfalen nicht mehr zu unterscheiden sind.
    Während der Recherche traf ich auf der neunten Sohle der Zeche »Minister Achenbach«, in tausend Meter Tiefe, den Essener Fotografen Timm Rautert , der dort für DIE ZEIT Aufnahmen machte. Er fand Interesse an meinem Thema, fotografierte Wachowiak, und ein paar Wochen später erschien das Bild des Rentners auf der Titelseite des ZEIT-Magazins , wie er halbblind in seiner kleinen Wohn- und Schlafstube saß, das Christuskreuz über dem Bett, die Ansichtskarten aus Posen, Krakau und Stettin in der Vitrine. In den folgenden Jahren haben Timm und ich zusammen über dreißig Reportagen gemacht, wir wurden ein »Team« und so enge Freunde, daß eifersüchtige Kollegen argwöhnten, wir seien schwul. Und nun bin ich allein unterwegs, ohne Timm. Nicht erst hier, wo der Rhein-Herne-Kanal seinen Wohnort durchquert, habe ich ein Gefühl von Untreue, von Fremdgehen. Aber nun ist mein schlechtes Gewissen so groß, daß ich mit Timm reden muß.
    Ein Tankwart glaubt mir die Geschichte vom verlorenen Portemonnaie und läßt mich umsonst ein Ortsgespräch führen. Timm ist gleich am Apparat, also nicht »auf Reportage« in Portugal, Australien oder Rio, wie ich befürchtet hatte. An der Kanalbrücke von Altenessen treffen wir uns, und wir tun zunächst ganz so, als sei alles wie früher. Mit dem Alfa geht es im Sausewind zum nächstbesten Italiener, dem »La Grotta « in Schalke, ich bestelle auf seine Kosten einmal Saltimbocca alla Romana , und wie immer fließt viel Chianti. Begierig höre ich den neuesten

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