Deutschland umsonst
jedes Mißtrauen erkundigt er sich in sachlichem, fast distanziertem Ton nach meinen Beschwerden. Im »Meditationsraum« unter den »Betenden Händen« von Dürer lege ich mich auf drei zusammengeschobene Matratzen, der Geistliche bringt mir Kohletabletten mit einem Glas Wasser an mein Krankenlager. Ich fühle mich viel zu elend, um Dankbarkeit für diese spontane Nächstenliebe zu empfinden, von der ich nie vermutet hätte, daß es sie in der Kirche noch gibt.
Es grenzt an ein biblisches Wunder, aber am nächsten Morgen schon bin ich armer Lazarus wieder auf den Beinen, etwas wacklig zwar, aber ohne Magenschmerzen. Der Vikar hat mich um 8 Uhr geweckt, mit der gleichen nüchternen, etwas blutleeren Stimme, mit der er mich empfing, aber sein Lächeln verrät etwas von Erleichterung, die jemand empfindet, dessen blindes Vertrauen nicht über Nacht enttäuscht wurde. Gemeinsam decken wir den Frühstückstisch. Abgestandene Nahrungsmittel im Eisschrank und die vielen Büchsen und Fertiggerichte in der Speisekammer weisen eindeutig auf einen Junggesellenhaushalt hin. »Ich mag das Alleinsein«, sagt der Vikar und stellt mir Maggi’s klare Hühnerbrühe mit Ei auf den Tisch, »vor zweihundert Jahren wäre ich wohl ein Einsiedler im Karthäuserorden geworden, aber mit den Menschen hier im Ruhrgebiet läßt es sich gut zusammenleben. Für die zählt nur, was einer kann, und nicht, was einer ist .«
Das Telefon unterbricht unsere Unterhaltung, noch bevor sie recht begonnen hat. Gödecke wird zu einem Sterbenden gerufen und eilt, das Marmeladenbrot noch in der Hand, aus dem Haus. »Machen Sie’s gut, schmieren Sie sich noch ein paar Brote für den Weg«, und schon ist er draußen.
Ich steige wieder hinab in mein Totenreich. Gleich nach Mengede beginnt das Stadtgebiet von Castrop-Rauxel, und noch bevor ich wieder richtig Tritt fassen kann, stehe ich vor einem meterhohen Maschenzaun, dahinter uniformgekleidete Männer und Baracken, deren Fenster solide vergittert sind. Aus der Ferne dachte ich zunächst an etwas Militärisches, aber nun ist klar, daß diese tristen Gebäude keine Kasernen, sondern Gefängnisse sind, und die Uniformierten keine Soldaten, sondern Strafgefangene. Am Ende des Zauns riecht es nach Eßbarem. Ein dicker Mensch steht im Unterhemd in der Tür und genießt die Sonne, die sich an diesem Morgen immer mal wieder hinter den Regenwolken hervorwagt. Ich frage nach »Resten für meinen Hund«. Der Mann dreht sich wortlos um und geht in das Gebäude, das dem Geruch nach die Gefängnisküche sein muß. Dann fliegen zwei Kalbsknochen über den Stacheldraht. Wenn ich noch eine halbe Stunde warte, sagt der Dicke, bis nach dem Mittagessen, dann kann ich auch was bekommen, »wir lassen hier niemanden verhungern«.
Nach einer halben Stunde kommt der Mann wieder an den Zaun und steckt mir eine Mettwurst, einen Joghurt, zwei Apfelsinen und ein in Pergamentpapier eingewickeltes Stück Brot durch die Maschen, seine ganze Essensration! »Nimm schon«, sagt er, »ich muß sowieso abnehmen, ’83 komm ich raus, und dann soll mich meine Frau schließlich noch wiedererkennen .« Zehn Jahre hinter Gittern wegen doppelten Totschlags haben ihn kräftig zunehmen lassen, »bei deinem Auslauf wäre ich auch so schlank«. Nach dem freundlichen Totschläger kommt noch eine ganze Horde tätowierter Häftlinge, es regnet Margarinewürfel, Bananen und Brotscheiben, es ist wie im Schlaraffenland. Alle lachen, alle haben einen Riesenspaß an der Aktion, ich spüre, wie gut es den Männern tut, jemandem helfen zu können, endlich mal nicht Sünder, sondern Wohltäter zu sein. Zum Schluß posieren sie mit ihren Schlangen, Bikinimädchen und zähnefletschenden Panthern auf Brust und Oberarmen für meine Kamera, ich muß das fotografieren, sonst glaube ich morgen selber nicht mehr, daß diese Bösewichte im Gefängnis an der Emscher so gut zu mir waren. Die Knackis und die Emscher sind hier wohl nicht zufällig Nachbarn — beide sind Abschaum und Opfer unserer Gesellschaft, und beide sind ihre Gefangenen. Dank der Verbrecher kann ich mich über meine reine Weste freuen, dank der Emscher können Frau Saubermann und ihr propprer Meister Riese schäumende Weißmachorgien feiern, ich sehe schon die strahlend weiße Wäsche auf der drei Kilometer langen Persil-Wäscheleine flattern, die von den Henkel-Männern für den Fernsehspot zwischen die Uferpappeln gespannt wurde. Auch für diesen Dreck muß die Emscher die Zeche zahlen.
In
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