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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Spielwarenladen hält im Schaufenster viel Kriegsspielzeug bereit: Leopard II, Marder und Königstiger zum Selberbasteln , aber auch Kanonenfutter im Kinderwagen für die Soldatentöchter. Im Stadtpark der Garnisonsstadt flanieren rund um den Ententeich auffallend viele junge Männer, zu zweit, zu dritt, in kleinen Gruppen, alle korrekt gekleidet und alle irgendwie gelangweilt. Das Café beim Kino, in dem die U 47 gerade das britische Schlachtschiff »Royal Oak « versenkt, ist ebenfalls gut besucht von Gästen mit militärischem Haarschnitt. Bis auf die Straße hinaus riecht es verführerisch nach Kaffee und feinen Backwaren. Durch die Scheiben sehe ich Kuchen auf den Tischen, mit Schlagsahne drauf oder überzogen von Schokolade. Sofort ist mein Hunger wieder da. » Wenne unterwegs bist, haste immer Hunger«, hatte Gustav die Ratte einmal gesagt, jener französische Fremdenlegionär aus dem Erzgebirge, der seit Dien Bien Phu »auf der Rolle« war, wie er sich ausdrückte, kreuz und quer durch die Bundesrepublik, zu Fuß, per Anhalter und gelegentlich mal mit einem »Bahnbenutzungsschein« des Sozialamts. Ich traf den Tippelbruder Mitte der siebziger Jahre vor dem Franziskanerkloster in Paderborn. Den linken Unterschenkel hielt er in einem Luftschacht versteckt, eine Zigarrenkiste mit ein paar Groschen drin hatte er vor sich. So bettelte er sich seine »Bombe« zusammen — um die drei Mark kostete damals die Zweieinhalb-Liter-Flasche Rotwein, die er täglich brauchte, »damit ich schlafen kann, ohne zu träumen, denn träumen ist schrecklich«.
    Damals war ich als Reporter unterwegs, und der Artikel, den ich später schrieb, trug die Überschrift: »Betteln ist schwerer als arbeiten«. Es war ein halbseidener Artikel, voller Halbwahrheiten, ich fuhr mit Timm, meinem Freund, im flotten Alfa die Landstraßen ab, auf der Suche nach lohnenden Objekten zum Thema: »Nichtseßhafte«. Sozialreportagen waren schon damals sehr gefragt. Gustav die Ratte erzählte mir sein Leben für einen »Heiermann«, also fünf Mark, die wir ihm großzügig in seine Zigarrenkiste warfen. Und er verriet mir auch ein paar Geschäftsgeheimnisse der Tippelbrüder, so zum Beispiel, wie man in Bäckereien, ohne zu zahlen, etwas zu essen bekommt: » Hamse wohl etwas altes Brot oder Gebäck übrig?« hieß die einschlägige Frage, die mir hier vor der Konditorei auf einmal so lebendig in den Ohren klingt, als stünde Gustav leibhaftig neben mir. Nie hätte ich es mir träumen lassen, daß ich diese Redewendung der Obdachlosen einmal selbst gebrauchen müßte, um den eigenen Hunger zu stillen. Aber muß ich wirklich? Habe ich doch ein Obdach in Hamburgs feinem Stadtviertel Winterhude , für das die Miete (516 Mark plus Heizungskosten) so wie die Krankenversicherung und die monatlichen 190 Mark für das Versorgungswerk der Deutschen Presse per Dauerauftrag von meinem Bankkonto abgebucht wird. Mit diesem Konto könnte ich hier filmreife Tortenschlachten finanzieren, und doch habe ich jetzt so wenig über dem Kopf und in der Tasche wie damals Gustav, als er am nächsten Morgen im Park von Paderborn aus seinem traumlosen Rausch erwachte. Ich wollte mich versuchsweise lossagen vom Geld, weil mein Lebenshunger bisher zu meinem Einkommen und zu meinem Alter proportional gestiegen ist. So habe ich mich zu meinem Doppelgänger gemacht, und wenn ich jetzt zögere, in die Bäckerei zu gehen, um nach Brot zu betteln, dann nicht, weil ich kein Geld habe, sondern weil ich eben doch welches besitze. Zwar spiele ich meine Rolle heute authentischer als noch vor fünf Jahren, als wir das Auto im Parkhaus von Paderborn versteckten, bevor wir uns mit nacktem Oberkörper von der Heimleiterin der Obdachlosenherberge nach Läusen, genannt »Bienen«, absuchen ließen, aber meine Zwielichtigkeit ist geblieben. Ich bin mir selbst nicht glaubwürdig, und meine größte Sorge auf dieser Reise ist nicht etwa, unterwegs zu verhungern (sollte es tatsächlich hart auf hart kommen, wird mein eng geknüpftes soziales Netz mich schon auffangen), wirkliche Angst macht mir nur die Vorstellung, daß ich dies alles tue, um darüber zu schreiben. Ich sehe schon den Werbetext auf dem Buchumschlag: » Ohne Geld durch deutsche Lande — ein Reporter erzählt «. Mit geheuchelter Armut Geld machen, zu solch perversem Betrug wäre selbst Gustav nicht fähig, der mit allen Wassern gewaschen ist, wenn es gilt, den quälenden Durst zu löschen. Und wie scheinheilig sind meine Selbstzweifel, da

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