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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Kasernenhof der Hannoveraner Kavallerie?
    Im Eilschritt nichts wie weg vom Kriegslärm. Es knallt aus allen Richtungen. Im Zweifel immer nach Süden. Nur gut, daß die Sonne so verläßlich jeden Morgen genau im Osten aufgeht. Seit Hamburg ist noch kaum eine Wolke am Himmel aufgetaucht. Im Laufe des Tages wird es dann aber immer schwieriger mit der Orientierung, weil ich nicht weiß, wie spät es ist. Wie schnell vergeht die Zeit beim Gehen, rennt sie, oder schleicht sie, oder trottet sie vor sich hin? Mir fehlt noch Erfahrung, ich bin da noch nicht bewandert genug. Wenn ich meine, daß nun Mittag sein könnte, mache ich Rast, lege mich in den Schatten eines Baums und lasse die Sonne genau durch zwei markante Astgabeln scheinen. Dann mache ich die Augen zu, träume ein wenig vor mich hin, und schon nach kurzer Zeit läßt sich ablesen, ob sie steigt oder den Zenit bereits überschritten hat, das heißt, ob es noch Vormittag oder schon Nachmittag ist. Früher war es Mittag, wenn ich Hunger bekam. Jetzt aber habe ich immer Hunger, Hunger ist mein ständiger Wegbegleiter geworden, er drückt im Magen wie ein schmachtendes Völlegefühl, er beschäftigt die Phantasie auf Schritt und Tritt, läßt im Heidekraut pralle Blaubeeren erscheinen und am Himmel gebratene Tauben. »Was würdest du jetzt zu einem Spanferkel am Spieß sagen«, frage ich Feldmann mit Lust an dem Gedanken, »ich esse die krossen Schenkel und lasse dir viel Fleisch am Knochen; oder du fängst mir einen fetten Fasan, und wir machen halbe-halbe .« Aber Feldmann hat selbst gegen die flügellahmsten Enten, die er gelegentlich aus dem Schilf der kleinen Teiche am Wege hochstöbert , keine Chance.
    Überraschend für mich ist, daß mich der Hunger nicht etwa lähmt oder schwächt, er treibt meinen Tritt wie eine Peitsche an. Die wunden Fersen, das Reißen in den Waden, die schweren Schultern — alle körperlichen Schmerzen werden fast betäubt von der Leere des Magens. Ähnlich der Quirligkeit nach einer schlaflosen Nacht, empfinde ich eine innere Überreiztheit, eine fast fiebrige Präsenz, die mir die Sinne schärft. Vor allem Farben wirken stärker auf mich, das Silberweiß und gelbliche Grün einer Birkenallee, der stufenlose Übergang vom hellen Rot bis zum verwitterten dunklen Braun, fast Schwarz der Ziegel eines alten Scheunendachs, das aschfahle Grau der sandigen Rübenäcker, die so sehr auf Regen warten — all das meine ich so farbig zu sehen, wie nur ein Blinder träumen kann, oder einer, der per LSD auf dem Trip ist. Am 1. Mai 1971 spielte sich im Stadtpark von Bochum vor meinen Augen etwas ganz Ähnliches ab. Ich saß allein auf einer Bank und begeisterte mich an den Reflexionen des ruhrgebietsgrauen Himmels im Ententeich. Auf dem Wasser tanzte und schillerte es so leuchtend bunt, als seien meine Pupillen Kaleidoskope. »Vielfalt, Vielfalt«, hörte ich mich immer wieder sagen und gab mich ganz der Illusion hin, ich hätte die Schleusen meiner Sinne mit einem kleinen Stückchen Zucker weit aufgestoßen.
    So etwa ist es auch jetzt wieder und das nicht allein mit den Farben. Auch die Töne klingen anders, eindringlicher, prägnanter: das helle Sterbeglöckchen in einem Dorf weitab vom Weg, sein traurig-monotones Bimmeln, das mir der böige Wind mal bedrohlich, mal zaghaft heranweht, der Lerchentriller wie festgenagelt am Himmel, das knarrende Gegeneinander zweier sich reibender Äste und dazwischen immer wieder und unüberhörbar die gnadenlos trommelnde Kriegsmaschine, die alle Nebentöne im Land begräbt.
    Am stärksten aber weckt der Hunger die Nase, den Riecher für die gute Gelegenheit, die Witterung für alles, was der Magen vertragen kann: ein kleiner Gemüsegarten am Rande eines verschlafenen Dorfes. Die Johannisbeeren, noch winzig und giftgrün, die Erdbeeren erst in voller Blüte, von den Erbsen außer Holzstangen keine Spur. Schlechte Zeiten noch für ein vegetarisches Mahl. Trotzdem zieht es mich neugierig an den Zaun heran, und was lugt da auf einmal hinter dem Gerätehäuschen üppig und verheißungsvoll hervor? Eine frühreife Rhabarberstaude mit Blättern so groß wie Elefantenohren und Stangen so rot und reif, daß mir die süßesten Gedanken ihren stumpf-sauren Geschmack verzuckern. Das Mittagessen ist gefunden.
    Vor einem einsam gelegenen Hof mit liebevoll restaurierter Fachwerkfassade brauche ich keinen besonderen Riecher, um meine Chance zu wittern. Harte Rockmusik dringt aus dem Wohnhaus, in dessen Türbalken ein Warner

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