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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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ich es ja am Ende doch tun werde. Aber ich muß es tun, muß mich zur Zwiespältigkeit meiner Motive und meiner Rolle bekennen, muß laufend beschreiben, wie es mir seßhaftem Tippelbruder ergeht auf meinem Weg durchs Land.
    Die Türglocke der Konditorei macht ding-dong . Fette Cremetorten und obstbeladene Kuchenböden springen mir zu Dutzenden ins Auge. Gäste und Bedienung drehen die Köpfe. Ihre Blicke wandern an mir herab: Mein Hemd ist verschwitzt, in die Jeans hat der Stacheldraht einen Triangel gerissen, sandiger Staub bedeckt die Schnürschuhe. Die Landstraße ist mir wohl schon anzusehen. Ich halte mich an meinem Stock fest und warte im Verkaufsraum vor dem Kuchenbüfett, bis ich an der Reihe bin. Fünf Kunden stehen noch vor mir, zwei Uniformierte, zwei sonntagsfeine mollige Damen und ein Junge in kurzen Hosen. Er blickt mit freundlicher Neugierde, bis ihn die eine mit spröder Stimme fragt: »Willst du nun Apfel oder Aprikose ?« Er will keins von beiden, lieber Negerküsse. Die Frau bestellt »zwei Aprikosenschnittchen >mit<«. Der Junge zieht einen Flunsch.
    Nachdem die Soldaten endlich ihre Wahl zwischen dem Schokoladenkuchen, der Rumtorte und dem Buttercremestrudel getroffen haben, wendet sich die Verkäuferin mir zu. »Sie wünschen, bitte ?« Welch eine Frage! Mir ist alles recht, ob Schnittchen, ob Torte oder Strudel, auch einzupacken braucht sie es gar nicht erst, ich verzehre gleich hier, stehenden Fußes. Das Bedienungsmädchen, blond, weißgeschürzt, wartet auf meine Bestellung. Ding-dong , neue Kundschaft kommt, durch den Türspalt sehe ich draußen meinen angebundenen Feldmann, der sorgenvoll zu mir hereinstarrt. »Sie wünschen, bitte ?« Ein wenig über den Tresen gebeugt, um nicht zu laut sprechen zu müssen, kommt aus mir der Spruch von Gustav: »Haben Sie wohl etwas altes Brot oder Gebäck übrig ?« Mit dieser Frage ist auch meine Verlegenheit über dem Tresen. Als hätte ich dem Mädchen einen unsittlichen Antrag gemacht, läuft sie rot an, sagt nach kurzem Zögern dann »Einen Moment« und verschwindet durch eine Tür neben dem schön dekorierten Pralinenregal. Auf der Straße schrillt das Martinshorn einer Militärstreife heran und fährt vorbei. Die Aprikosenschnittchen lächeln mich an. Ding-dong , noch mehr Leute. Endlich kommt die Bedienung zurück, immer noch etwas verfärbt im Gesicht, eine Papiertüte in den Händen. »Bitte«, sagt sie mit betretenem Lächeln. »Danke«, sage ich, bemüht, ihrer Stimmlage zu entsprechen. Mit einem Ding-dong bin ich wieder draußen an der Luft. Feldmann tanzt.
    Während ich die Stadt verlasse, stopfe ich trockene Brötchen und »Amerikaner« in mich hinein. Ich bin unsagbar stolz, meine erste große Bettelprobe bestanden zu haben, die Sauermilch vom Bauern war ja mehr eine Gefälligkeit. Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein auch noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag. Gustav hatte schon recht, als er sagte: »Betteln ist schwerer als arbeiten .« Ich kann’s jetzt, was kost’ die Welt!
    Über den Gartenzaun spricht mich ein Rentner auf meine Zweimeterlänge an. Er ist bei der Garde gewesen, erzählt er ungefragt, Hannoveraner Kavallerie, 1912, Lanzenexerzieren auf dem Kasernenhof. Meistens hat er daneben gestochen, weil die Pferde vor den mit alten Uniformen bekleideten Strohpuppen scheuten. Als später aus den Puppen Menschen wurden, hatten Pferde und Lanzen in den Schützengräben an der Somme und vor Verdun keinen Platz mehr. Nach einem Giftgasangriff lag der Kavallerist bis Kriegsende im Lazarett, blind, »aber mit einem EK, wie der Hitler«. Der Krieg scheint den Leuten von Munster nicht mehr aus den Köpfen gehen zu wollen.
    Nach kurzer Nacht auf moosigem Waldboden endet der Munsteraner Sonntagsfrieden schon mit dem ersten Morgenlicht. Geweckt werden wir von einer Staffel Hubschrauber, die im Tiefflug über uns hinwegdröhnt. Kaum haben die Vögel ihre Stimmen wiedergefunden, da bringt sie der ferne Donner schwerer Geschütze erneut zum Schweigen. Maschinengewehre bellen in rhythmischen Abständen dazwischen. Dann wieder die Hubschrauber. Zwei Piloten in jeder Maschine, sie fliegen so dicht über die Wipfel, daß ich unter den weißen Helmen ihre roboterhaften Gesichter erkennen kann. Die gleichen Gesichter wie in Brokdorf , Grohnde , Gorleben, denke ich; wann fallen die Tränengasbomben, wann kommt die berittene Bereitschaftspolizei aus dem Unterholz, mit extra langen Knüppeln, oder übt sie noch auf dem alten

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