Deutschland umsonst
ohmächtiger Wut, ich heulte mit. Nun konnten wir nicht mehr rüber nach Prenzlauer Berg und Friedrichshain, wo wir so gern in den Ruinen spielten, von denen es im Westteil der Stadt kaum noch welche gab. Blindgängersuchen war unser Lieblingsspiel, auch wenn wir nie einen fanden. Das Gefühl, überall in der Trümmerwüste könnte ja einer liegen und jeden Moment hochgehen, war maßlos aufregend, weil der Spaß theoretisch jederzeit Ernst werden konnte. Wölfchen und ich, wir waren nun ausgesperrt von unserem Spielplatz Ost-Berlin, das war wirklich gemein von den Russen. Als knapp eine Woche drauf die Amerikaner eine Panzerbrigade zur moralischen Aufrüstung aus der Bundesrepublik nach West-Berlin schickten, da standen wir begeistert am Ku’damm . Ich winkte mit meiner Berlinfahne, die wir auf Sylt immer auf dem Strandkorb hißten, und schrie » Bravo! Bravo!«. Doch die Mauer blieb, und statt Blindgängersuchen mußten wir fortan Flüchten spielen, mit einer Mauer aus Mülltonnen im Hinterhof.
Obwohl ich den Verlust meiner Ruinenspielplätze längst verwunden habe, war am Hang über Vacha doch wieder so etwas von Trennungsschmerz, von Abgeschnittensein, von Ohnmacht zu spüren. Ich hatte Hunger, drüben war ein Bäcker, man konnte die frischen Brötchen geradezu riechen, und mir war es nicht mal gestattet, auch nur danach zu fragen.
Tagelang behielt ich die Grenze im Auge, wanderte hart an den Sperranlagen immer weiter nach Norden. Ich war fasziniert von diesem Zaunungetüm, das wie ein endloser Lindwurm durch die Landschaft kriecht, das keine Steigung zu ermüden scheint und kein Bach aufhalten kann, das sich breite Schneisen durch dichte Wälder frißt und wahllos seine unberechenbaren Haken schlägt, das Dörfer teilt und Täler zerschneidet, vor dem Brücken in den Fluß stürzen und selbst Autobahnen wieder zur grünen Wildnis werden.
Die Menschen diesseits des Zauns schienen mir so feindselig wie die Grenzer jenseits. Kein Bewohner des Zonengrenzbezirks erwiderte mein grüßendes Kopfnicken, keiner gab mir etwas zu essen, und um ein Nachtquartier wagte ich erst gar nicht zu fragen. »Wer sich hier herumtreibt, der hat was auf dem Kerbholz«, sagte mir ein Förster, der mich eines Morgens aus seinem Hochstand holte, »außer Gesindel und Gelump kommt zu uns doch keiner mehr her .«
Um so verwirrter waren die Zonenrändler von Weißenborn, als ich nach einer bitterkalten Nacht im Wachhäuschen des Bundesgrenzschutzes halberfroren in ihren Sonntagsgottesdienst platzte. »Jesus, unser Trost und Leben«, sang die Gemeinde mit verrenkten Hälsen, die Konfirmanden ganz vorne kicherten verstohlen, aber der Pfarrer tat so, als sei gar nichts geschehen. Ich griff mir ein Gesangbuch, setzte mich auf die leere, letzte Bank. Die Kirche war gut geheizt, ich war selig! Aus vollem Halse sang ich mich warm, von mir aus hätten die Lieder hundert Strophen haben können. Der Pfarrer faßte sich viel zu kurz mit seiner Predigt, denn als er sein Kreuz schlug und »Amen« sagte, waren meine Zehen immer noch kalt. Viel zu schnell näherte sich auch der Kirchendiener mit seinem Klingelbeutel, den er mir so lange vor die Nase hielt, bis ich etwas beschämt in meine Hosentasche griff, von der ich wußte, daß da außer Taschenmesser, Pfeifenstopfer und einem Stück Schnürsenkel nicht einmal ein Knopf zu finden war, mit dem ich mich hätte behelfen können. Also blieb nur die leere Geste, die unvermeidliche Handbewegung. Hörbar spitzte die Gemeinde die Ohren, aber der Beutel, er klingelte nicht, niemand hatte etwas anderes erwartet.
Während des Abendmahls mußte ich mich sehr beherrschen. Der Schluck Wein wäre mir gut bekommen, der Herr hätte mir das sicher verziehen, schließlich war er ja auch oft zu Fuß unterwegs und weiß, wie das ist. Doch das Spießrutenlaufen durch die gaffende Menge bis ganz nach vorne zum Altar wollte ich mir ersparen.
Als einer der ersten verließ ich nach dem Schlußgebet die Kirche. Geschlossen zog die Gemeinde, vorneweg die Männer, an Feldmann und mir vorbei über den Kirchvorplatz in ein großes weißgekalktes Gebäude, vor dem die politischen Parteien dicht an dicht ihre Kandidatenporträts aufgestellt hatten — Strauß, Schmidt, Genscher in friedlicher Eintracht, flankiert von Marlboro-Cowboy und Pfanni’s Kartoffelpuffern. Wie alle vier Jahre hatte man wieder die Wahl, für die Leute an der Grenze ein besonderes politisches Hochamt.
Abends in Eschwege sah ich die Kandidaten erneut —
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