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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Milieu integriert, daß ich dort sogar fotografieren konnte, ohne aufzufallen. Und nun, keine zwei Stunden später, war ich plötzlich der »Junge aus gutem Hause«. Keine schäbige Kleidung, keine hohlen Wangen und auch kein struppiger Bart konnten die resolute, stämmige Frau täuschen, auch kein Gerede von wegen »bin auf der Wanderschaft«, mit einem einzigen Blick hatte sie mich durchschaut.
    Wie selbstverständlich entsprach sie meiner Bitte, für etwas zu essen beim Aufbau des Zirkus mithelfen zu dürfen. Es gab aufgewärmte Spaghetti mit Tomatensoße, soviel ich wollte. Doch dann mußte ich hart ran, half beim Einschlagen der zwanzigpfündigen Eisenstangen, zog mit den übrigen Helfern die Zeltplane hoch, verspannte die Haltetaue , streute Sägemehl in der Manege und stellte rundherum die Klappstühle auf. Eile war geboten, um 15 Uhr sollte die erste Kindervorstellung laufen, und die Tiere, fünf Ziegen, zehn Ponys, ein südafrikanisches Zebu, ein Steinbock, zwei Lamas, fünf Enten, ein sibirisches Kamel, drei Hunde und ein Rhesusäffchen, die allesamt in zwei ehemaligen Möbelwagen zusammengepfercht waren, sie mußten auch noch gefüttert werden.
    Das auf vergilbten Handzetteln ausgedruckte Zirkusprogramm, »spannend — einmalig — sensationell«, versprach mehr, als die Familie Leonardi , die eigentlich Schindler oder Schierer heißt und aus dem westfälischen Hamm stammt, heute noch bieten konnte. Die Nummer »Paradox & Co. — die lebende Mumie« war längst gestorben, und der Fakirakt »Trio Rita Rama « hatte ebenso gestrichen werden müssen wie die »Feuerschlucker-Show« und der »Rotierende Todesstern«.
    Was blieb, war eine sympathisch handgestrickte Vorstellung ohne Perfektion und Raffinessen, bei der es allein deshalb viel zu lachen gab, weil so gut wie gar nichts klappte. Schon zur Eröffnung trat das Zebu hinter dem Vorhang gegen den Plattenspieler und ließ die Nadel über »Herb Alperts Disco Hits« holpern. Conférencier Leonardi , der smarte Direktor, Typ alternder Gigolo, tobte vor Wut. Zornig fauchte er seinen Gehilfen Ludwig an, der angeblich das Tier nicht richtig festgehalten hatte — und das ausgerechnet bei vollen Zuschauerrängen, wie lange hatte man so etwas schon nicht mehr erlebt! Ja früher, als Großvater Paulino noch Chef war, da hatte das Fernsehen den Leuten das Staunen noch nicht ausgetrieben, und der Zirkus Leonardi galt als die Sensation der Provinz. Heutzutage ist man froh, wenn dreißig oder vierzig Besucher kommen.
    Und nun rutschten wider Erwarten vierhundert Kinder da draußen unruhig auf ihren Stühlen. »Meine sehr verehrten Damen und Herren...«, strahlend betrat Signor Leonardi , eben noch der wütende Chef, die Manege — doch weiter kam er nicht, seine Stimme verstummte, als wären ihm vor lauter gespielter Höflichkeit die Stimmbänder gerissen. Stromausfall. Mit gequältem Lächeln eilte Leonardi zurück zu uns hinter den Vorhang, um hier zu explodieren. »Sauladen !« tobte er mit geschwollenen Schläfenadern, verfluchte seine Angestellten, die natürlich an allem schuld waren. Nun hatte ich das südafrikanische Zebu an der Leine, was uns beiden jedoch gar nicht recht war. Das Biest zog und zog, und ich schwitzte vor Angst, es könnte mich gleich, auf seine langen, spitzen Hörner aufgespießt, in die Manege tragen, unter dem tosenden Beifall der Zuschauer.
    Aber erst kam Lassie dran mit ihrem »Todessprung«, der heute natürlich auch nicht klappte. Statt über die beiden Stühle zu hüpfen, kroch der Hund drunter durch und bezog dafür hinterm Vorhang entsetzliche Hiebe, doch selbst die halfen nichts: Auch beim zweiten Anlauf verweigerte Lassie den Sprung.
    Alles ging schief vor diesem vollen Haus, die Kinder aber amüsierten sich trotzdem. Gerade die kleinen Pannen und Mißgeschicke quittierten sie mit dem stärksten Applaus, endlich mal was anderes als die perfekten Fernsehshows, mögen sie sich gedacht haben.
    Rinaldo, das geliebte Enkelkind der Leonardis , kaum fünf Jahre alt und dreikäsehoch, setzte dem Programm ein erstes Licht auf. Wie ein Profi warf er im goldenen Glimmertrikot seine Messer auf das rote Pappherz des schwarzen Stoffgorillas — und traf immer. Routiniert und gelassen ließ er mit erhobenen Ärmchen den Applaus seiner Altersgenossen auf sich niedergehen, verbeugte sich dreimal so tief, daß sein kleiner Kopf fast im Sägemehl verschwand, und schritt stolz aus der Arena. Nachdem im Anschluß an die Pause mein Zebu mehr schlecht

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