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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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als recht Männchen und der Clown August seine witzlosen Späße gemacht hatten (»Guten Tag, liebe Rinder, äh, Kinder«), kündigte Il Direttore den Höhepunkt des Programms an: »Meine sehr verehrten Damen und Herren:...«, Pause, kein Stromausfall, statt dessen ein Trompetentusch aus der Tonbandkassette. Als »artistische Spitzenleistung« wollte er nun höchstpersönlich brennende Dolche auf seine eigene Schwägerin werfen, um sie nur haarscharf zu verfehlen. Da jedoch keine Versicherung die »lebensgefährliche, atemberaubende Darbietung« zu schützen bereit wäre, bat er das Publikum noch schnell um eine Spende, »falls doch ein Unglück passieren sollte«. Nach den pausenlosen Pannen war das Mitgefühl der Zuschauer für die arme Schwägerin natürlich groß, und viel Taschengeld klimperte auf die Blechteller, die von der gesamten Familie Leonardi durch die Reihen getragen wurden, selbst die Chefin war sich da nicht zu schade. Erst danach — Trommelwirbel — flogen die Feuerdolche. Frenetischer Applaus. Die Schwägerin blieb unverletzt. Ende der Vorstellung.

    »138. Tag. Auf dem städtischen Friedhof in Schweinfurt: Vor mir ist Christus gerade im Begriff abzuheben, mit der linken Zehenspitze berührt er noch eben den Boden, doch sein dornengekröntes Haupt erscheint dem grauen Himmel schon sehr nahe. Die römischen Wachsoldaten stürzen, geblendet vom Glanz des Herrn, in ihren eisernen Rüstungen auf den monumentalen Granitgrabstein dessen, der hier begraben und von hier auch, wer weiß, auferstanden ist: >Ernst Sachs — *22.11.1867, f2.6. 1932. <
    Sie ist ein bißchen groß geraten, die Familiengruft der Kugellager-Sachsens , aber schön gelegen mit Blick über Schweinfurt, wo ich gerade mit Barbara gut gefrühstückt habe. Hatte wirklich etwas Rührendes, diese Barbara, gestern bin ich ihr bei der Inneren Mission begegnet, sie arbeitet dort als Sozialarbeiterin in der Abteilung für Nichtseßhaftenhilfe. Als ich die Tür öffnete, stand sie sofort auf und gab mir zur Begrüßung die Hand. Man merkte gleich: Die kann hier noch nicht lange sein, die hat noch keine Wand zwischen sich und ihrer Kundschaft, die glaubt noch an den Sinn ihrer Arbeit. Warme Unterwäsche wollte ich haben und vor allem Handschuhe, denn besonders morgens und abends ist es oft so kalt, daß mir unterwegs die Hände blau anlaufen — ich kann sie nicht in die Hosentaschen stecken, brauche sie ja zum Rucksackhalten.
    Wir also runter in den Keller zum Altkleiderlager, doch das Angebot dort war schlecht sortiert. Zylinder gab’s und Badehosen jede Menge, auch Unterröcke, BHs und Bettwäsche, aber nichts, was ich brauchen konnte. Tat der armen Barbara richtig leid, sie suchte wie verrückt, fand dann auch eine wollene Damenunterhose, in die ich dreimal gepaßt hätte (trage sie dennoch), doch Handschuhe fand sie keine. Ich nahm ein altes Frackhemd mit, sehr zur Verwunderung des Mädchens. >Wollen Sie in die Oper damit ?< fragte sie mich lachend, und dabei fielen mir ihre gepflegten weißen Zähne auf. War überhaupt ganz hübsch, das Mädchen, und bestimmt gerade erst Anfang Zwanzig. Am meisten gefiel mir ihr dichter, rotbrauner Zopf im Nacken. Leider hatte Barbara nicht viel Zeit für mich. Im Flur vor ihrer Bürotür standen meine Kollegen Schlange, man merkte auch hier, daß es draußen kalt geworden war. Mit Handschlag verabschiedete sie mich.
    Und dann der Reinfall vor der Penne. Zwei Stunden mußten wir vor der Tür im eisigen Wind warten, zum Glück hatte einer eine Flasche Korn dabei, der wärmte einigermaßen, und als der Mensch von der Stadt endlich mit dem Schlüssel erschien, gab er mir eine Fahrkarte. >Hunde kommen hier nicht rein<, sagte er bestimmt, und meinen Überprüfungsschein von der Polizei riß er einfach in Stücke.
    Was tun? Es war dunkel, es war kalt, und ich war in Schweinfurt. Hoffnungslose Lage. Scheißspiel. Da kam die Barbara von der Inneren Mission — hallelujah! Sie ahnte gleich, was los war, nahm mich prompt mit in die nächste Kneipe, und dann, auf leisen Sohlen, ab nach Hause zu ihr, doch nicht zu zweit in ihr Bett, sondern allein aufs Sofa im ausgebauten Keller, denn Barbara wohnt noch bei ihren Eltern. Und die durften auf keinen Fall aufwachen, sonst wäre ich gleich wieder an der frischen Luft gewesen. Ich war nämlich nicht der erste, den sie von der Straße aufgesammelt hat. Erwin hieß mein Vorgänger, bis zum Morgen hatte er die Hausbar leergetrunken und das Bett vollgekotzt — was die gute

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