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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Barbara nicht bremsen konnte in ihrer unermüdlichen Selbstaufopferung für >meine Männer<, wie sie uns nennt. Einen davon, den Tippelbruder Weber, besucht sie nach Dienstschluß täglich im Krankenhaus, wo sein offenes Bein behandelt wird. Ohne ihren persönlichen Einsatz gegen die eigenen Vorgesetzten hätte Weber nie einen Krankenschein bekommen. Nun haben Barbaras Kollegen Angst, das Beispiel könnte Schule machen. Wenn man mit jedem Tippler so umginge, wäre Schweinfurt über Nacht das Mekka der Pennbrüder und Barbara ihre Schutzheilige, fürchten sie. >Die Stadtväter schmücken sich lieber mit Gunter Sachs, dem Oberpenner<, sagte sie mir.
    Und heute morgen fielen Barbaras Eltern beim Frühstück erst mal die Löffel ins Müsli, als da plötzlich schon wieder so einer aus dem Keller hochgestiefelt kommt. Hab mir einen Spaß draus gemacht, mit ausgesuchter Höflichkeit und tadellosen Tischmanieren den >Jungen aus gutem Hause< herauszukehren, den ich sonst in den Pennen immer fleißig zu tarnen versuchte. Wollte die beiden Alten (aber auch Barbara) irritieren. Besonders dem Vater merkte ich an, wies knisterte und knackte im Hirn, als seien da die Fundamente scheinbar wohlgefugter Vorurteile ins Wanken geraten. Er hat sich nicht mal getraut, mich direkt anzuschauen, musterte mich nur ab und zu scheu aus den Augenwinkeln, traute wohl seinen Augen nicht mehr, der Herr Studienrat a. D. Ich fühlte mich überlegen und sauwohl, als Wanderer zwischen den Welten, der überall zu Hause ist. Vorgestern Penne, gestern Zirkus, heute Einfamilienhäuschen — in diesem Spannungsverhältnis lebt es sich wie im Rausch, schwebend, ungebunden, frei, weil man in Gedanken schon immer woanders ist, selbst die schlimmsten Entbehrungen lassen sich in einem solchen Zustand aushalten, sind sie doch selbstgewollt, gehen sie doch alle vorüber, haben sie doch nichts Endgültiges — unterwegs fühle ich mich, als hätte ich mein Leben im Griff: Mein Schicksal bestimme ich, ich habe die Wahl zu bleiben oder wegzugehen, und der Studienrat hat sie eben nicht. Das spürte der Kerl heute morgen am Frühstückstisch, er muß sich schrecklich bedauernswert vorgekommen sein neben >so einenn , den er eigentlich für bedauernswert gehalten hat.
    In einem Hochgefühl wie jetzt, hier am Sachs-Grab über den Dächern von Schweinfurt, hab ich vor nichts mehr Angst, kann mich nichts mehr schrecken, und an Hamburg und die Folgen denke ich jetzt mal lieber nicht .«

    Tage später saß ich wieder an einem Hang, und wieder blickte ich auf eine Stadt. Es war ein kalter, klarer Herbstmorgen, und die Sonne war gerade erst über den Hügeln aufgegangen. Ihr schräges Licht kreuzte die weißen Rauchsäulen, die fast senkrecht aus den Häusern stiegen. Obwohl die Kirchturmuhr längst acht geschlagen hatte, war kaum Verkehr in den winkligen Straßen, vereinzelte Radler, ab und zu ein knatternder Zweitakter, ein paar Hausfrauen mit Einkaufstasche, Schulkinder, händchenhaltend in Zweierreihen, der Schornsteinfeger und sein Geselle auf dem Motorrad, drei streunende Hunde neben einem Fabriktor. Ein verschlafenes Städtchen in der nördlichen Rhön, an dem die Zeit behutsam vorübergegangen zu sein schien, ohne Supermärkte, ohne Neubausiedlungen, statt dessen mit viel altem Fachwerk, kleinen Läden, holprigem Kopfsteinpflaster. Vor der Brücke am Fluß tummelten sich ungestört Dutzende von Enten. Ein Bild des Friedens, zum Greifen nahe.
    Doch der Eindruck trog. Die Stadt dort unten, keine fünfhundert Meter Luftlinie von mir entfernt, war für mich unerreichbar. Auf der Brücke lagen Stacheldrahtrollen, und dahinter stand ein Wachturm, aus dem mich bewaffnete Uniformierte durch Ferngläser mißtrauisch beobachteten. Vacha, der friedliche Ort am Ufer der Werra, liegt direkt jenseits der Grenze zur DDR. Die Fenster der Häuser am nördlichen Stadtrand waren zugemauert, Stacheldraht lag auf den Dächern, und alle Straßen, die mal zum Fluß führten, endeten vor hohen Betonplatten.
    Der Anblick von Vacha ließ meine Gedanken nach Berlin wandern. 13. August 1961 — ich hatte eigentlich mit Wölfchen, meinem Ferienfreund, an den Wannsee zum Schwimmen fahren wollen, doch dann erzählte uns der Fahrkartenschaffner im Bus, daß was los ist an der Sektorengrenze, und wir nichts wie hin. Neben dem Brandenburger Tor spannten sie gerade den Stacheldraht zwischen die Betonpfähle, überall standen Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Die Volksseele kochte, die Leute heulten vor

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