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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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guter Stimmung, daß ihnen der leichte Nieselregen überhaupt nichts anhaben konnte, obwohl niemand einen Mantel trug. Aufgekratzt redeten sie miteinander, man hatte sich eine Menge zu erzählen, so viele Jahre waren vergangen seit dem letzten Wiedersehen. Die zahlreichen Prachtkarossen vor dem Landschulheim hatten mich gleich ahnen lassen, daß ich ausgerechnet zum Altschülertreffen hergeraten war, denn der Elterntag konnte es nicht sein, der fand grundsätzlich im Hochsommer statt. Sowenig wie ich wußte, ob ich mich über diesen Zufall ärgern oder freuen sollte, sowenig hatte ich eine Vorstellung davon, warum ich den weiten Umweg durch den Solling in mein Internat bei Holzminden machten mußte, wo ich doch hier im Frühling schon zur Genüge in meiner Vergangenheit herumgestöbert hatte.
    Im nächtlichen Schatten der Holunderbüsche sah ich sie mir aus sicherer Distanz genau an, meine alten Mitschüler, und ich war froh, von ihnen nicht entdeckt zu werden. Zwölf Jahre waren vergangen, seit ich viele der Menschen dort zum letztenmal gesehen hatte, damals bei der Abiturfeier in der Aula, der »Hohen Halle«, vor der sie auch jetzt standen. Ich erkannte sie alle, da genügte eine Geste, und schon waren längst vergessene Namen wieder präsent, und mit ihnen kamen Gefühle von Sympathie oder Ablehnung, von Bewunderung oder Verachtung, und nur wenige ließen mich gänzlich gleichgültig. Die zwölf Jahre schienen an vielen spurlos vorübergegangen zu sein, Rudolf war der Kasper geblieben und Jochen der Professor, und der attraktiven Renate sah man ihre beiden Kinder nicht an. Und doch gab es auch Überraschungen. Jürgen zum Beispiel: die Füße wie immer etwas nach außen gestellt, der Kopf beim Sprechen ein wenig im Nacken, ich hatte ihn damals gemieden, wo ich konnte. Schon äußerlich war er mir unsympathisch gewesen, die verpickelte Haut, die gelben Zähne, aus seinem Haar rieselten immer die Schuppen wie Schnee. Jürgen hatte für mich etwas Ekelhaftes gehabt, in seinem Blick hatte für mich etwas Verschlagenes gelegen, und wenn am Sonntag ein Stück Nachmittagskuchen fehlte, war mir immer schon im voraus klar gewesen, daß er es geklaut hatte. Wer so guckt, der muß ein Dieb sein, hatte ich gedacht, und so dachten die meisten. Jürgen war allgemein sehr unbeliebt gewesen, wir hatten uns über seine quäkende Stimme ebenso lustig gemacht wie über seinen watschelnden Gang. Wir hatten ihn gepiesackt, wo wir nur konnten.
    Aber dieser Jürgen dort unter der Laterne schien ein anderer Mensch zu sein. Ein freundlich lächelnder Mann stand da, ein liebevoller Vater, der sein kleines Kind warm im Arm hielt, ihm zärtlich den Rotz von der Nase wischte, umgeben von seinen ehemaligen Peinigern, die ihm nichts mehr anhaben konnten.
    Das Landschulheim am Solling war wohl nicht zufällig der einzige Ort, den ich auf dieser Wanderung zweimal aufsuchte. Ob Bochum, Bergisch-Gladbach, Heppenheim oder München — keiner Station meines Werdegangs hatte ich mich so verbunden gefühlt, wie eben Holzminden. Romantische Phantasien waren in mir gewachsen, seit ich mich auf dem Rückweg nach Norden befand, bunte Tagträumereien vom müden Vagabunden, der in seinem Internat Gärtner wird, »einfach so«, wie es mir Rolf, der blonde Lockenkopf, vor einem halben Jahr auf der Terrasse vor Zetes Haus naiv vorgeschlagen hatte. »Der alte Brüning geht bald in Pension«, waren Rolfs Worte gewesen, »da wird ja eine Stelle frei .« In Gedanken hatte ich mich schon Kohlrabi und Petersilie pflanzen sehen, von der Didleralm wollte ich mir Blumensamen besorgen, um mit Himmelsherolden, Hundszahnlilien und Wilden Männlein die Sollingwiesen zu verzaubern, und statt der stinkenden Motormäher sollten ein paar Kühe, ein Weißhorn, eine Gustl und eine Scheckerte , das Gras kurzhalten. Mein kleines Gartenhäuschen sollte meine Arche werden, so wie es vor Wochen die Didleralm gewesen war, und dann würde es ganz und gar keinen Grund mehr geben, durch die Lande zu irren, auf der Suche nach mir selbst.
    Doch nun war ich wieder im LSH, am Ziel meiner Gärtnerträume, stand wie ein Dieb im Schatten der Holunderbüsche und wagte nicht einmal, mich zu erkennen zu geben.

    Bis Hamburg lag noch ein gutes Stück Weg vor mir, bei täglich sinkenden Temperaturen im spätherbstlichen norddeutschen Protestantenland, ohne Klöster, ohne Almhütten, ohne Brotzeitgutschein, ohne Pflaumen an den Bäumen. Mit viel Glück gab es in Möhringen vom Pfarrer ein

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