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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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»Fleischergeld« über fünf Mark, und in Hameln konnte ich beim Amtsvorsteher des Sozialamtes persönlich eine Durchreiseunterstützung von 4,50 Mark loseisen — aber das alles brauchte viel Überredungskunst und demütige Blicke, und vor allem kostete es wertvolle Zeit. Jetzt, wo ich es eilig hatte, nach Hause zu kommen, wurden die Tage immer kürzer, schon gegen sechs setzte bei dichter Bewölkung die Dämmerung ein und damit die mühsame Suche nach einem Unterschlupf. Denn war es erst einmal dunkel, blieben auf dem flachen Lande nur die stinkenden Kuhunterstände, in denen sich allein mein Weggefährte wohlfühlte.
    Viele der größeren Ortschaften, wie etwa Rotenburg, Stadthagen oder Schneverdingen, haben ihre Übernachtungsherbergen in den letzten Jahren dichtgemacht. In den wenigen verbliebenen Pennen einen Platz zu bekommen war oft schwerer als die Hotelzimmersuche in Frankfurt während der Buchmesse. Bereits gegen Mittag mußte ich in Walsrode oder Nienburg bei der Polizei meinen numerierten Überprüfungsschein beantragen, sonst war alles voll, und im Bahnhof stand meist die Polizei schon bereit, um ihre Pappenheimer aus dem geheizten Wartesaal zu werfen. Der letzte Ausweg war da oft das Gastarbeiterwohnheim.
    In Stadthagen zum Beispiel bedurfte es keiner Formalitäten, da genügte die Zeichensprache: Ich brauchte nur meinen Kopf mit geschlossenen Augen auf meine gefalteten Hände zu legen, und schon begriff die Türkin, was ich wollte, die da in der feuchten, schimmligen Küche auf der Erde saß, frischgebackene Brotlaibe, warm und duftend, vor sich, Kinder ringsherum, den jüngsten Säugling an der Brust. Der pladdernde Regen draußen unterstrich die Dringlichkeit meiner Bitte. Die Frau zögerte keine Sekunde, oben war ein großer, leerer Flur, und Matratzen gab es auch, aber erst sollte ich essen. Fatma , die zehnjährige Tochter, brachte mir Schnittlauch, Schafskäse und süßes Gebäck. Ihre Mutter siebte weiter den bröseligen Teig, während das Baby satt und zufrieden in ihrem Schoß schlief. Vater Ali war noch auf Spätschicht, hörte ich von der Tochter, die in eine deutsche Schule geht. Als ich fragte, wie es ihr dort gefällt, gab sie eine kurze, prägnante Antwort: »Sechs«, ungenügend.
    Im Laufe des Abends kamen der halbwüchsige Sohn der Familie und zwei Frauen mit ihren Kindern aus der Nachbarschaft. Man traf sich zum Mehlsieben, trank Tee die Menge und schwatzte unaufhörlich. Ich fragte, ob ich ein paar Bilder machen dürfte, die Weiber lachten und zogen sich die Kopftücher tiefer ins Gesicht. Wenn ich Abzüge schickte, könnte ich knipsen, sagte mir der Sohn, und ich gab mein Wort.

    Auf den letzten zweihundert Kilometern war mir alles egal. Trotz der guten Vorsätze klaute ich in Loccum am Steinhuder Meer einen Kompaß und zwei Landkarten von Norddeutschland, Maßstab 1:200 000, und rucksackte geradewegs durchs Moor Richtung Nordosten, Richtung Hamburg. Ich wollte so schnell wie irgend möglich dort ankommen, ich wollte der Entbehrung, der Ruhelosigkeit und Ungewißheit endlich ein Ende machen. Hamburg, das klang jetzt wie eine Befreiung. Dort, wo ich vor knapp einem halben Jahr abgehauen war, dort hatte ich meine vier Wände, mein Bett und Freda. Während ich im Geiste längst im heißen Rosmarinbad lag, mit einem guten Glas Rotwein in der Seifenschale, gingen meine Beine wie von selbst, meine Füße spürten, taubgelaufen, Kälte und Nässe nicht mehr, die Hände klammerten sich steifgefroren um die Rucksackriemen. Mein Körper war zur Maschine geworden, zum empfindungslosen Automaten, angezogen nur von einem roten Fleck hinter einer blauen Linie auf einer grünen Landkarte. Die Sorge ums tägliche Brot, um den trockenen Platz zum Schlafen wurde von Tag zu Tag nebensächlicher, Hauptsache, ich kam voran, Hauptsache, ich brachte die Distanz zwischen meinem Standort irgendwo im Moor und meinem Bett irgendwo im Nordosten hinter mich. Stundenlang zählte ich die Schritte bis tausend, machte dann mit dem Stift einen Strich auf meiner Handfläche, abends summierte ich die Striche wie ein Strafgefangener die abgesessenen Tage seiner Haft und war zufrieden, wenn es recht viele waren.
    Aber genug waren es nie. Ich konnte nicht so schnell, wie ich wollte. Mein Endspurt durch Birkenwälder und aufgeweichtes Torfland erschien mir viel zu schleppend, die Linie, mit der ich auf der Landkarte meine zurückgelegte Strecke markierte, war eine jämmerliche Kriechspur.
    Als mich im Lichtenmoor bei

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