Deutschlandflug
sie.
»Die Türen sind zu; die Fenster lassen sich nicht öffnen!« Dollinger, der Unbarmherzige.
»Ich will aber raus hier!« Schweiß perlte auf ihrer Stirn. »Warum kann man nicht einfach abspringen?«
Er fragte sich, woher eine so sensible und zarte Frau den Mut zum Springen nehmen wollte.
»Weil keine Fallschirme an Bord sind!«
»Weshalb nicht? Wir haben doch auch Schwimmwesten, Sauerstoffmasken, sogar Schlauchboote! Ich frage Sie: Was sollen wir mit Schlauchbooten über Deutschland anfangen?«
»Ursprünglich wollten wir ja mal nach Bermuda. Da liegt eine Menge Wasser dazwischen!«
»Na gut, aber weshalb keine Fallschirme?«
Wie die meisten Menschen, die unter Streß stehen, wurde sie aggressiv, feindselig. Auch Dollinger spürte, wie Geduld und Höflichkeit ihn verließen. Dabei hatte er ähnliche Fragen selber oft genug. Er klingelte nach der Stewardeß.
»Frau Gundolf, meine Nachbarin hätte gern einmal genau erfahren, weshalb wir eigentlich keine Fallschirme an Bord haben. In einer Situation wie dieser könnten wir jetzt alle abspringen. Starfighter-Piloten machen das doch auch?«
Leicht vorgebeugt und sich mit den Händen auf den Sitzlehnen abstützend, gab sie eine längere Erläuterung:
Zunächst einmal und grundsätzlich: Eine Situation wie diese, die gleichzeitig eine Landung unmöglich mache und den Passagieren erlaube, in aller Ruhe abzuspringen, sei geradezu einmalig. Wenn man bedenke, daß ein Fallschirm rund dreißigmal so schwer wie eine Schwimmweste sei und mindestens den dreifachen Stauraum benötige, sei schon von der Möglichkeit der Benutzung her die Mitnahme nicht gerechtfertigt. Abgesehen davon könne man nur unter Höhen von 3.000 Metern abspringen, wenngleich auch das noch eine Zumutung für den größten Teil der ungeübten Passagiere sei. Weshalb?
»Weil darüber die Umweltbedingungen tödlich für den Menschen sind. Zu geringer Sauerstoffgehalt – der Mensch stirbt den Höhentod. Zu geringer Außendruck der Luft: Die Adern platzen. Oder das Blut beginnt zu kochen. Die russischen Kosmonauten von Sojus Elf sind so gestorben: an Aeroembolismus!«
»Aber es hat doch Entführer gegeben, die sind mit dem Geld aus einer entführten Maschine abgesprungen?«
Die Dame ließ nicht locker. Margot quetschte sich an die Sitze, um eine Kollegin mit Tabletts vorbeizulassen.
»Ja. Aber nur aus einer Boeing 727 und nur aus geringer Höhe. Die Sieben-Zwo-Sieben war damals das einzige Passagierflugzeug mit einem Ausgang am Heck unterhalb der Triebwerke, der sich im Flug öffnen ließ. Das hat man dann später geändert. Ansonsten: Von wo wollen Sie abspringen? Sie würden gegen das Leitwerk schlagen oder von den Triebwerken angesaugt werden.«
Sie gab sich wieder ihren Erinnerungen hin. Dieser Flug schien ihr ganz und gar unwirklich. Durch diese Zwischenwelt zogen sich Gitarrenmelodien; sie war eine Liebhaberin klassischer und gemäßigt moderner Gitarrenmusik. Wenn sie abends am Kamin plauderten, hatte Thomas fast immer eine Segovia- oder Ypes- oder Bream-Platte aufgelegt – Mario Gastelnuovo-Tedescos heiteres Concerto in D zum Beispiel, den dritten, balladesken Satz von spanischem Temperament liebte sie besonders.
An einem dieser Abende hatte sie das Schicksal der drei Sojus-Elf-Kosmonauten besonders beschäftigt, die am 29. Juni 1971 nach einem vierundzwanzigtägigen Forschungsprogramm dreißig Minuten vor der Landung umkamen. Durch eine Störung in der hermetischen Abdichtung der Führungsbaugruppe fiel der Kanzeldruck so jäh ab, daß alle drei in wenigen Minuten umkamen. Zwei hatten noch ihre Anschnallgurte gelöst, um ein offensichtlich undichtes Ventil von Hand zu schließen.
Auf dieses winzige Ventil, das nach der Landung den Druckausgleich herstellen sollte, stieß man erst nach langen Monaten, in denen man auf Vermutungen und Trugschlüsse angewiesen war. Als man später auf der Erde die letzte halbe Stunde nachsimulierte, benötigte man 27 Sekunden, um das Ventil von Hand zu schließen – was offensichtlich zwei Kosmonauten noch versucht hatten. Die rapide Dekompression des Landemoduls hatte jedoch bei Dobrowolski, Pazajew und Wolkow eine unmittelbare Bewußtlosigkeit zur Folge. Sie starben innerhalb von vier Minuten an massivem Aeroembolismus in den Blutgefäßen … Und jetzt geisterte der Fachausdruck ›rapide Dekompression‹ durch ihre Gedanken, untermalt von der Gitarrenmusik jenes Abends. An eine alles zerstörende Bombendetonation vermochte Margot gar nicht
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