Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Milchabgabe eingestellt haben; ja, es möchte wohl auch der Hartgesottenste unter diesem Eindruck nicht gleichgültig davonkommen.«
    Ulla lachte lauthals auf; Allermann mußte selber lächeln. Aber Gundolf schien geradezu von tierischem Ernst besessen.
    »Ist Ihnen irgendwas daran gegen den Strich gegangen?« fragte Ulla.
    Statt Gundolf antwortete Allermann:
    »Haben Sie vergessen, daß wir Bombenalarm hatten?«
    »Natürlich nicht. Ich habe ihn nur nicht ernst genommen!«
    »Ich nehme ihn sehr ernst!« sagte Gundolf.
    »Haben Sie nicht irgendwann einmal geäußert, es wäre Ihr vierter? Und bisher sei noch nie etwas passiert?«
    »Ich nehme ihn sehr ernst!«
    Gundolf sah kalkweiß aus. Plötzlich spürte Ulla Voorst, daß ihr Chef etwas verschwieg.
    »Was haben Sie?« drängte sie beunruhigt. »Da ist noch etwas, nicht?«
    »Ja«, bestätigte Gundolf. »Da ist noch etwas. Meine Frau ist an Bord!«
    Als Thomas Gundolf im ostpreußischen Rastenburg geboren wurde, brach der Zweite Weltkrieg aus – im gleichen Monat, im gleichen Jahr: 1939. Sein Vater, ein strebsamer, aber nicht übermäßig geschäftstüchtiger Kolonialwarenhändler, fiel schon in den ersten Tagen des Polen-Feldzugs, so daß Thomas ihn niemals zu Gesicht bekam. Dafür entwickelte sich bei ihm von den ersten Denkanfängen an ein ausgeprägter Haß auf den Krieg, den er später nicht als schicksalhaftes Naturereignis empfand, sondern als von Menschen angezettelt und unterhalten.
    Rastenburg ruhte in sehr vielem Grün am Oberlauf der Guber, einem Seitenfluß der Alle; die gleichnamige Burg war 1329 von den Ordensrittern erbaut, 1345 von den Litauern zerstört und danach mehrfach umgebaut worden. Thomas lernte das mächtige Gebäude nur noch als Behördenhaus kennen – sofern man bei einem vierjährigen Knaben überhaupt davon sprechen konnte. Immerhin glaubte er später, Erinnerungen an das besonders hübsche Portal behalten zu haben.
    Seine Mutter war eine einfache, aber in praktischen Dingen außerordentlich kluge Frau. Im Gegensatz zu ihren nachbarlichen Zeitgenossen glaubte sie weder an einen späten Sieg der Wehrmacht im Osten noch an einen Sieg des Führers überhaupt. So harrte sie als einzige nicht bis zum Winter 44/45 aus, als die Russen die benachbarten Dörfer in Brand schossen, sondern setzte sich schon im Frühjahr 43 durch eine als Besuchsreise nach Berlin getarnte Flucht mit ihrem Sohn ab. So entging sie dem furchtbaren Massaker und Sterben in den Flüchtlingstrecks.
    In bezug auf sein zukünftiges Leben in der Bundesrepublik pflegte er später zu sagen: »Schicksal ist eine Randnotiz in einem Buch.« Tatsächlich hatte seine Mutter Anfang der fünfziger Jahre nicht mehr gewußt, wohin sie sich nach der Flucht aus Ost-Berlin wenden sollte. Thomas las gern in den nachgelassenen Büchern seines gefallenen Vaters. Er hatte aus ›Hauffs Werke‹ nicht nur die Geschichte vom Kalif Storch, die Geschichte von dem kleinen Muck und den Zwerg Nase verschlungen, sondern auch Die letzten Ritter von Marienburg und Das Wirtshaus im Spessart. Und dort, bei der Sage vom Hirschgulden, hatte sein Vater an den Rand gekritzelt: Einmal durch die dunklen Wälder des Hoch-Spessarts wandern …
    Er wolle in den Spessart, habe er, berichtete seine Mutter später, ausgerufen; und so hätte sie, vom Flüchtlingslager Friedberg aus, dort eine Stelle angenommen, als Kassiererin in einem der gerade aufkommenden Supermärkte.
    War es ein Wunder, daß sich der junge Thomas sofort einem Wanderverein anschloß und das unerreichte Traumziel seines Vaters zu erforschen begann? Als Mitglied des Spessartbundes durchstreifte er den Goldbacher Wald, war auf dem Sternberg und Hahnenkamm zu Gast, besichtigte Alzenau und das Wasserschloß Mespelbrunn und lernte das liebliche Wiesthal kennen.
    Er durchforschte auch Heigenbrücken, den Engländer und den Eselsweg und das Schloß Johannisburg. Daß ihm große Teile des Spessarts trotzdem nicht übermäßig ans Herz wuchsen, war weniger der Fehleinschätzung seines Vaters als vielmehr der bundesrepublikanischen Forstwirtschaft der Nachkriegsjahre zuzuschreiben. Das Profitdenken hatte die ökologischen Zusammenhänge eines Waldes vergessen und aus ihm eine Holzproduktionsstätte werden lassen. Da Fichten am schnellsten und am bedürfnislosesten wuchsen, waren große Teile mit dem düsteren Nadelbaum aufgeforstet worden. Weil Unterholz und Mischwald fehlten, blieben große Bestände an Singvögeln aus, worum sich aber in einer

Weitere Kostenlose Bücher