Deutschlandflug
schwang sich bis zum zweiten Stock hinauf, wo die Bronzegußtür des Großen Konferenzsaales nicht nur funktionelle, sondern auch raumgestalterische Zwecke erfüllte.
Zwischen Koffern, Overnight bags und Reisekits entdeckte er seinen ehemaligen Nachbarn Dr. Dolf Dollinger: ein Mann Anfang Vierzig mit bereits ergrauendem, aber vollem Haar. Hinter seinem feinen, ernsten Gesichtsprofil vermutete man einen Gelehrten, keinen Praktiker. Tatsächlich hatte er sich nicht nur einen Namen durch den Bau moderner Kirchengebäude gemacht, sondern auch mehrere Bücher über zeitgemäße Stadtplanung geschrieben.
Wie immer hielt sich Dollinger nicht mit banalen Begrüßungsreden auf und ging sofort in medias res, wenn er einen guten Bekannten traf. Da seine architektonischen Ideen weder den Geschmack der Massen noch den gängigen Zeittrend trafen, war er glücklich, wenn er wenigstens Anlaß zum Theoretisieren fand.
Gundolf besaß die seltene Gabe des Zuhörens. Kaum hatte Dollinger ihm zwischen einem Karren mit Samsonites und einem unverputzten Pfeiler erläutert, er wolle sich auf den Bermudas von den Strapazen mit seinem eben beendeten Buch erholen (Massenpsychologie und Baukasten-Architektur), da zog er Gundolf schon in einen der bonbonrosafarbenen Kunststoffreihensitze und mitten in seine neuesten Forschungen hinein. Er entwickelte seine Theorie über das, was er als Rückzug in befestigte Höhlen bezeichnete: Immer mehr öffentliche Gebäude wurden zu Schutzburgen gegen Demonstranten.
»Bis Ende der sechziger Jahre hatten wir eine Architektur, die von dem Prinzip der offen strömenden Gesellschaft ausging. Türen, Tore waren da, um durchdrungen zu werden. Brücken schlugen Verbindungen und luden zum Überqueren ein. Am Beginn des letzten Quartals unseres Jahrhunderts deutet sich eine Rückkehr zur mittelalterlichen Isolation an. Türen, Tore und Brücken werden wieder zu reinen Absperrmechanismen; man sollte die verfallenden, renovierungskostenschluckenden Rheinburgen exakter ansehen. Sie könnten wieder Vorbild werden! Wer dreht eigentlich am Rad der Zeit?«
»Hör mal, Dolf«, versuchte Gundolf einen zaghaften Einwand, »das alles ist viel zu interessant, zu revolutionär, um hier zwischen Ticketcounter und automatischer Schiebetür behandelt zu werden. Wenn du zurück bist aus Bermuda, besuche mich. Wir machen wieder einen riesengemütlichen Weinabend am offenen Kamin; ich habe einen nicht weniger interessanten Badener Vierundsiebziger bereitstehen; und meine Frau wird sich freuen.«
»Sieh dir dieses mißlungene Häufchen Superflughafenscheiße an! Natürlich, ich habe selber die Kapelle entworfen; ich weiß! Übrigens die Wiederholung der ganzen Problematik im Kleinen. Der nicht zu kittende Riß durch das menschliche Bewußtsein! Stell dir vor: Da hast du die Masse der Reisenden – Manager, kühle Rechner, kalte Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Börsenjobber, Journalisten, Mittelstandsbürger. Alles Menschen, von denen kaum einer an Gott glaubt. Areligiös durch und durch! Plötzlich, beim Abgeben des Flugtickets, überfällt sie die Angst des Neandertalers vor den undurchschaubaren Naturereignissen! So etwas wie der Aberglaube vor dem Dreizehnten! Da, als Strickleiter sozusagen, leuchtet das Kreuz über der Flughafenkapelle auf, die ja völlig integriert ist in diesen Komplex von Duty-free-Shops, Souvenirläden, Banken und Bars. Also: Nichts wie hinein, man kann ja nie wissen; vielleicht ist doch was dran, schließlich möchte man auch eine Grabrede vom Pastor haben! Diese Leute also füllen das aus, was ich als religiöse Zufluchtsstätte gestalten soll! Atheisten in einer Kapelle, die für sie nichts ist als ein Versicherungsbüro für Reiseschäden ins Jenseits! Da hast du das Dilemma, unter dem der ganze Flughafen leidet …« Dollinger war ein zykloider Typ; wie Goethes Mutter in ihren Briefen geriet er vom Hundertsten ins Tausendste. »Das Dilemma besteht in der Diskrepanz zwischen Weltoffenheit und der Notwendigkeit, sich gegen Erpresser und Entführer absichern zu müssen. Auf der einen Seite: Tor zur großen weiten Welt, strömt herbei, ihr peter-stuyvesandt-rauchenden Völkerscharen! Auf der anderen: Bombendrohungen. Schwarzer September. Terror!«
»Du wolltest mir von den befestigten Höhlen erzählen.«
Gundolf hoffte, durch hinweisende Einwände schneller sein Hörsoll zu erreichen. In zwanzig Minuten begann sein Dienst.
»Eben! Nimm das Beispiel Berlin. Dort hat man vor wenigen Jahren ein
Weitere Kostenlose Bücher