Deutschlandflug
dem Fernsehschirm: passiv. War die Gehirnwäsche Teil eines internationalen geheimen Gewöhnungs- und Anpassungsprogramms, durch das die Staatsmächte ihre Untertanen auf die kommenden Greuel vorbereiten wollten? Oder trat im Menschen des 20. Jahrhunderts ein schon durch Adam und Eva veranlagter Erbfaktor in Kraft, ein Selbstschutzmechanismus, der ihn vor dem Wahnsinnigwerden bewahren sollte?
Waldhänge, Flußufer, Talwiesen, zerschnitten von den Kanalisationsgräben, Straßenbauten und Gartenanlagen der Baugenossenschaften und Grundstücksmakler, deren Kanäle und Flußufer gradliniger als ihr Charakter waren. Einzeln stehende Bungalows auf Sonnenhängen: welch ein Rückfall! Sie forderten in der bereits begonnenen Epoche des Terrors geradezu zum Überfall heraus – offen und strategisch günstig ließen sie sich schon durch ein paar haschberauschte Laien gefahrlos anzünden, in die Luft sprengen. Alles dieser Art würde in Kürze für einen Appel und ein Ei verramscht werden! Überteuerte Fertighäuser, in denen sich die Haustür schon durch sanften Körperdruck eindrücken ließ? Passe! Einfamilienhäuser mit unvergitterten Fenstern im Parterre? Nicht mehr zu verkaufen! Idyllische Strohdachhäuser am Waldrand in romantischer Einsamkeit? Fluchtartig würden die Bewohner ihre offenen Kamine und Wohndielen endgültig der Romantik überlassen. Er kannte Besitzer, die schon heute die örtlichen Polizeikräfte bei jedem sich bietenden deutschen Feiertag mit Kisten voller Weinbrand überschütteten, damit ihre Patrouillengänge und -fahrten in öffentlich kaum zu vertretender Häufigkeit diese abseits gelegenen Prestigebauten berücksichtigten – möglichst lückenlos.
In Dollingers Schubladen ruhten längst die Entwürfe der kommenden Zeit: festungsähnliche Rund- oder Atriumbauten, die nach außen völlig fensterlos waren. Seine Anregungen hatte er sich auf Fahrten durch Eifel und Vogesen geholt: Die riesigen Wehrbauernhöfe vermittelten eine Fülle von Anregungen. Er hatte sich auf zwei Möglichkeiten konzentriert: die natürliche Art der Verteidigungsmöglichkeit, wie sie im mittelalterlichen Burgbau durch Gräben, Tore und Zugbrücken verwirklicht worden war, und die technisch-elektronische, wie sie durch die Wehrdörfer der Amerikaner in Vietnam praktiziert worden war. Auf jeden Fall würde in Zukunft niemand mehr das Haus eines Großindustriellen ohne elektronisch überprüfbaren Code betreten können. Er hatte ästhetisch durchaus vertretbare Villen- und Familienbungalowentwürfe, die nur sehr entfernt an Bunker erinnerten – niemand zeigte Interesse. Wie immer schlummerte der Spießer trotz aller sogenannten Information seinen unstörbaren Dornröschenschlaf. Wie einst die Passagierkontrollen durch die Dummheit und Gleichgültigkeit der Gesellschaften und Bodenorganisationen um Jahre zu spät eingesetzt hatten, würde auch der Run auf seine neue Architektur erst nach einem Übermaß von Katastrophen einsetzen. Das neue Schlagwort zur Popularisierung seines Baustils lag bereit: ›defensiv wohnen‹.
Er ertappte sich bei seinen Gedankenabschweifungen. Wollte er nicht endlich einmal ausspannen, abschalten?
Nichts als Urlaub machen? Er bestaunte das Riesenheer der Urlaubmacher wie die Armee eines fernen Planeten. Wie brachten sie es Jahr für Jahr fertig, unter diesen Zeichen zu leben, als werde nichts geschehen? In den vierziger, fünfziger Jahren hatte niemand eine solche Entwicklung voraussehen können. Aber jetzt waren die Zeichen unübersehbar.
Er lächelte. Er sollte nun wirklich für ein paar Tage alle Fanale übersehen und sich in das Riesenheer einreihen.
Gerade, als er sich einen doppelten Bourbon bestellen wollte, überraschte ihn der Kapitän mit seiner Durchsage.
Plötzlich war alles, was er soeben hatte verbannen wollen, wieder da.
Und plötzlich erinnerte er sich einer Szene, die er einen Tag vorher beobachtet hatte. Er hatte ihr kein Gewicht beigemessen. Jetzt, nachdem die Bombenwarnung ihn in Schrecken versetzt hatte, stand sie drohend vor ihm.
9
Er hatte den Tag vor seiner Abreise mit einem früheren Klassenkameraden, Matthias Jason, verbracht. Einen Tag vor der triumphalen Eröffnung war dessen Seelenlage entsprechend; und Dollinger hatte sich verpflichtet gefühlt, ihm ein wenig beizustehen.
Sie standen am einstigen Langen See, hundert Meter abseits der Bundesstraße, über die pausenlos die schweren Laster zwischen Hanau und der Autobahnauffahrt bei Kleinostheim dröhnten.
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