Deutschlandflug
Individualismus hin, der in einem Kampf aller gegen alle enden wird. Auf der anderen Seite war die Macht der Masse und die Tendenz zur Gleichschaltung noch nie so stark wie heute. Ein unlösbarer Widerspruch!«
»Verdammt interessantes Thema!« bestätigte Dollinger begeistert.
Gundolf sprang auf, als er das Leuchten in seinen Augen sah.
»Sorry! Ich muß gleich in der Zentrale sein! Aber meine Frau fliegt endlich mal wieder als Purserette mit! Bis Bermuda wird sich Zeit zum Klönen finden lassen!«
»Fabelhaft!« bestätigte Dollinger.
… Und jetzt hatten Margot und Dollinger garantiert noch keine fünf Minuten miteinander sprechen können. Es sei denn, sie erklärte ihm gerade die Notevakuierungsmaßnahmen!
Wenn eine Bombe an Bord war, kam es nach der Landung auf jede Sekunde an. Insofern wäre eine Notevakuierung berechtigt. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß eine Bombe, die bisher nicht detoniert war, ausgerechnet in jenen drei Minuten detonieren sollte, die der normale Aussteigevorgang länger als die Evakuierung dauerte.
Letzten Endes, dachte Gundolf und sah prüfend Ulla und Allermann an, glaubt keiner von uns an die Bombe! Schließlich war nach der ersten Warnung das Flugzeug bereits von oben bis unten umgekrempelt, waren die Passagiere rücksichtloser als Kriminelle durchsucht worden.
»Alles in Ordnung mit der Zweitausend?« fragte Gundolf, um seine eigene Stimme zu hören.
»Ich hänge im Funksprechverkehr zwischen ihr und Zürich-Control drin. Sie hat ihre Reisehöhe verlassen und geht gerade durch 29.000 Fuß!« bestätigte Allermann.
Ulla zupfte an ihrem OLI.
»Er hat gute Laune und volles Vertrauen zum mitteleuropäischen Luftverkehr! Die Piloten in der Flugzeugkanzel: ratlos – das ist nicht drin. Mein alter Russe würde sagen: Probleme wachsen zwar wie Unkraut. Aber es fallen auch Äpfel vom Baum, die das Gras niederschlagen!«
»Dann ist ja alles in bester Ordnung!« dankte Gundolf, gerührt durch den Zuspruch, und zog noch ein Kleenex heraus.
Dollinger war, als die Maschine mit elegant emporgestrecktem Bug abhob, sofort in die allerbeste Laune geraten. Die Stimmung an Bord war ausgezeichnet. Acht ausgesuchte Stewardessen, von denen Dollinger erst drei gesehen hatte, in dem weiträumigen behaglich unterteilten Rumpf, bemühten sich mit Scherzen und Getränken, schon vor dem Start Urlaubsatmosphäre zu verbreiten.
Er versuchte sich Strandpalmen unter dem Tropenhimmel der Bermudas vorzustellen.
Sie stiegen über den Rhein hinweg; und er erkannte die Siedlungen bei Guntersblum, deren Reihenhäuser er entworfen hatte. Hier wie überall war das Land zersiedelt, die ökologische Einheit von Wald, Wasser, Wiesen und Augrund zerstört worden. Als sie sich dem Oberpfälzer Bergland näherten, tauchten an den Hängen die Einzelvillen, Holzbungalows und Atriumhäuser der Prominenz auf. Der Anblick riß ihn aus seinen Träumen von marmorgrünen Lagunen, dümpelnden Fischerbooten mit halb verwitterten Namen und Rumdrinks aus Kokosnußschalen. Hatte denn niemand genügend Scharfblick, die hinterwäldlerische Rückständigkeit dieser Art von individualistischer Siedlungsform zu erkennen? Was mußte noch an Gewalttaten, Terrorakten und Stadtguerillaschlachten passieren, um die Welt hellhörig zu machen? Wie viele Filmstars mußten noch von Mansons Nachfolgern hingeschlachtet werden, wie viele Kubrick-Filme à la › Uhrwerk Orange‹ gedreht werden?
Dollinger hatte den Film mit Schaudern und wie einen Alptraum erlebt. Unauslöschlich hatte sich ihm der sadistische Überfall auf den alternden Schriftsteller und seine attraktive junge Frau eingeprägt. Während der wehrlose Mann zum Krüppel getreten, seine Frau vergewaltigt wurde, sangen und pfiffen die jugendlichen Gangster einen nostalgischen Schlager der dreißiger Jahre: Singing in the rain. Dieser Schlager war das Grauenvollste an der absurden Situation. Fast noch grauenvoller fand er die Diskussionen, die er später mit seinen jüngeren Angestellten und Kollegen über diesen Film führte. Ausnahmslos hielt man diesen Gegensatz für einen ausgezeichneten filmischen Gag, die Szene von einer fast erheiternden Perversität – Dollinger traute seinen Ohren nicht. Hatte die Gehirnwäsche durch die Kommunikationsmittel schon so gewirkt, daß die Gags einer Situation den qualvollen Inhalt überspielten? Längst war bekannt, daß Massenzuschauer bei einem beobachteten Autounfall, Banküberfall oder Mord sich nicht anders verhielten als vor
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