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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
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Übel gelaunt trat Jason gegen einen vermoderten Ast.
    »Normal ist, woran die Masse sich gewöhnt hat!« sagte er. »Eine grausame Erkenntnis!«
    Jason war ein Original und ein Genie an Vielseitigkeit. Sein wildsprießender Bart ließ ihn älter erscheinen, als er war. Seine winzigen, lebhaften Augen verrieten, daß er innerlich kindlich geblieben war. Dollinger wußte: Seine Jugendideale hatte Jason nie verraten. Er war starker Pfeifenraucher und, wie Dollinger, Whiskytrinker. In seinem ereignisreichen Leben hatte er mindestens ein Dutzend Berufe ausgeübt. Seit zwölf Jahren war er Vorsitzender der ›Vereinigten Umweltschutz e.V‹. An seiner späten Anerkennung als Maler (eine kombinierte Jason-Hundertwasser-Ausstellung ging gerade durch Deutschland und Holland) und Schriftsteller war nicht nur sein ursprünglich spröder, unaufdringlicher Stil, sondern auch die Kompromißlosigkeit schuld gewesen, mit der er sich zwischen sämtliche Stühle setzte.
    Dollinger, der Realist, hielt seinen Klassengefährten aus der Darmstädter Oberschule für einen bewundernswerten, aber zum Mißerfolg verdammten Idealisten reinsten Wassers. Beide sahen in bezug auf Anarchie und Radikalismus gleichermaßen finster in die Zukunft. Aber während Dollinger diese Tatsache akzeptierte und seine Studien für einen neuen ›defensiven Wohnstil‹ trieb, glaubte Jason noch immer an Frieden und Gerechtigkeit und eine Wandlung in letzter Minute. Jetzt fuhr er fort:
    »Das Elend dieses Jahrzehnts ist gar nicht, daß es hier am Langen See zwischen Stockstadt und Seligenstadt an der Straße der Residenzen, keine Blaufrösche, Waldschnepfen, Rohrdommeln und Reiher, ja, nicht einmal den Langen See mehr gibt. Nein! Das Höllische ist: Die Leute vermissen die Blaufrösche, Waldschnepfen und Rohrdommeln gar nicht.« Er sah Dollinger an, erwartete aber keine Antwort. »Im Jahr 2000 wird in ganz Deutschland nur noch ein einziger Baum zu besichtigen sein. Mit einem Sperling darin, dem letzten mitteleuropäischen Vogel. Die Deutschen werden stolz auf diesen Nationalpark sein.« Jason ließ einen traurigen Blick über die Reste des Sees gleiten.
    Das einstige Naturschutzgebiet war eine Kloake geworden. Rücksichtlos hatten Einheimische und flüchtige Besucher ihren Wohlstandsmüll abgeladen. Plastikkanister, Sitzkissen, Flaschenkartons. Ein ausgeweideter Fernsehapparat ragte mit seinem Bedienungsteil aus dem rostrot verschlammten Uferstreifen.
    Vor wenigen Jahren hatte hier wenigstens noch die alte Hinweistafel gestanden, die Dollinger selber als Schüler einmal im Handwerkunterricht geschnitzt und bemalt hatte:
    NATURPARK SPESSART
NATURLEHRPFAD LANGER SEE
ÜBERBLEIBSEL DES URMAINS
    Jetzt hatte auch sie dem Parkplatz weichen müssen, der sich von Jahr zu Jahr breiter an den letzten Rest trüben Brackwassers herangemacht hatte. Zwischen wildwuchernden Kamillenstauden und Pestwurz halb vergraben, entdeckte er das Hinweisschild der ›Wanderfreunde Großwelzheims von 1951‹: ›Das Wasser des Langen Sees und die verwachsenen Ufer sind Anziehungspunkte für viele Wasservögel. So sind der Haubentaucher, der Zwergtaucher, das Teichhuhn, das Bläßhuhn, mehrere Entenarten und die Bekassine zu beobachten. Von den 85 mitteleuropäischen Libellenarten tummeln sich etwa 40 auf dem Wasser des Sees.‹
    Auch dieses Schild hatte er einst nach den Anweisungen seines Biologielehrers aufgestellt. Er sah sich wieder dort graben und mit dem Holzhammer auf den Pfosten schlagen – ein hagerer hochaufgeschossener Jüngling mit nicht einzudämmender Akne und nicht zu intensivierendem Bartflaum.
    Wohin waren die scheuen, langschnäbeligen Moorvögel ausgewichen, als aus dem sporadischen Motorrollerverkehr der fünfziger Jahre zwischen Hanau und Stockstadt der röhrende Mittsiebziger-Traffic wurde? Jason unterbrach ihre Gedanken.
    »Wußtest du, daß die Griechen ursprünglich kein Wort für Chaos kannten?«
    »Mach mal, Matthias!«
    »Nyx war die Nacht – eine der Göttinnen, vor der selbst Zeus heilige Furcht empfand. Sie war ein Vogel mit schwarzen Flügeln; und sie wurde durch den Wind befruchtet. Sie legte ein silbernes Ei in den Riesenschoß der Dunkelheit.« Er stieß einen Plastikbeutel beiseite, der sich an einem winzigen Birkensproß verfangen hatte. »Welcher Gott wirklich daraus hervorging, weiß man nicht – Eros vielleicht. Protogonos war an und für sich der Erstgeborene. Manche schwören auf Phanes: der, der alles ans Licht brachte, was vorher im Silberei

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